“Es herrscht eine erschreckende Unkenntnis über unsere Flagge”

Enrico Brissa ist Protokollchef des Deutschen Bundestags und hat ein Buch über die deutsche Flagge veröffentlicht. An der Evangelischen Akademie Tutzing sprach er mit dem langjährigen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel über historisches Erbe, den Missbrauch von Symbolen, Loyalität und Zusammenhalt – sowie einen gelebten Verfassungspatriotismus.

Im Jahr 2018 war es nach einer tödlichen Messerattacke in Chemnitz zu Ausschreitungen gekommen, initiiert von rechten und rechtsextremen Gruppen. Bei einem Konzert, das als Antwort auf diese Situation organisiert worden war, soll ein Sänger von der Bühne gerufen haben: “60.000 Leute und keine einzige Deutschlandflagge, wie cool ist das denn!” Dr. Enrico Brissa, Jurist und Protokollchef des Deutschen Bundestags, findet so etwas gar nicht cool. Am eigenen Leibe musste er bei einer Demonstration erfahren, dass die Nationalflagge geradezu verhasst ist. “Es herrscht eine erschreckende Unkenntnis über unsere Flagge”, sagte er bei einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing am 30. September. Sie stand unter dem Thema “Schwarz-Rot-Gold”. Anlass war Brissas Buch “Flagge zeigen! Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen” (Siedler Verlag, München 2021, 288 Seiten, 20 Euro). Das Sachbuch will nicht nur informieren, sondern liest sich auch als Plädoyer für einen gelebten Verfassungspatriotismus.

Prof. Dr. Bernhard Vogel, früherer Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz sowie von Thüringen, machte es aus seiner Freude über den Band keinen Hehl: “Wer sich kundig machen will, muss dieses Buch lesen.” Vogel stimmte den Beobachtungen Brissas zu und sagte unter Anspielung auf die Fußball-WM 2006 in Deutschland, “ich dachte, wir seien schon einmal weiter gewesen”. Damals prägten Deutschlandflaggen das öffentliche Bild. Beobachter im In- und Ausland deuteten dies für einen inzwischen selbstverständlichen Umgang mit dem Staatssymbol. Tatsächlich taten sich die Deutschen sowohl mit der Flagge als auch mit der Nationalhymne lange schwer. Den Grund dafür sieht Vogel in der Diktatur des Nationalsozialismus. Der Symbolmissbrauch dieser Zeit habe lange nachgewirkt. Die Wiedervereinigung habe schließlich zu einer Bewusstseinsänderung beigetragen. Den Bürgerinnen und Bürger der DDR sei die schwarz-rot-goldene Flagge vertraut gewesen – sie mussten lediglich Hammer und Zirkel heraustrennen.

Umdeutungen durch Pegida

Enrico Brissa nannte das Jahr 2014 als einen Zeitpunkt, zu dem sich die Situation grundlegend zu ändern begann. Nach der WM habe die entstehende rechtsextreme Pegida-Bewegung die Flagge benutzt. Und auch in den sozialen Medien habe eine Umdeutung begonnen. “Wir dürfen da nicht tatenlos zusehen”, so der Jurist. Auch manche jungen Menschen, die die WM 2006 nicht erlebt hätten, sehen Schwarz-Rot-Gold anders – sie verbinden die schwarz-rot-goldene Flagge mitunter mit dem Holocaust.

Brissas Verdienst ist es, in seinem Buch die historischen Fakten gut lesbar zusammengestellt zu haben. Fazit: Historisch betrachtet steht die Nationalflagge für Freiheit. Das hat auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mehrfach betont und darauf hingewiesen, dass die Feinde der Demokratie kein Recht hätten, sich der Staatssymbole zu bedienen.

Loyalität fördern, Schrecken überwinden

Brissa, der auch Protokollchef der Bundespräsidenten Christian Wulff und Joachim Gauck war, sieht darüber hinaus ein tieferliegendes Problem: Weltweit sei die Demokratie unter Druck geraten. In den 2000er Jahren endete ein weltweit bislang bespielloser wirtschaftlicher Aufschwung – zeitgleich mit der Ausbreitung der Demokratie. Populismus, Autoritarismus und Totalitarismus seien seitdem auf dem Vormarsch. Dabei gehe es um einen Kampf um Identität, in dem Würde und Partizipation eine Rolle spielten. Die Digitalisierung befördere diese Entwicklung. Deshalb brauche es eine Diskussion in der Mitte der Gesellschaft. “Die Demokratie lebt von der freiwilligen Loyalität der Bürgerinnen und Bürger”, betont Brissa. Hingegen sei die Diktatur nicht auf Zustimmung angewiesen.

Um diese Loyalität zu fördern, brauche es mehr Anstrengungen – zum Beispiel in den Schulen. Auch sollten Schulklassen die Orte der Demokratie besuchen, wie etwa das Hambacher Schloss, die Frankfurter Paulskirche und Leipzig.

“Die Demokratie ist nie für alle Zukunft gesichert”, warnte Vogel. Mit Brissa war er sich einig, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet sei. Dies sei besorgniserregend. Zugleich wehrte er sich aber vehement gegen den immer häufiger zu hörenden Hinweis, dass die Schwierigkeiten noch nie so groß gewesen seien wie heute. Wer das behaupte, habe keine Ahnung von Geschichte. “Wir dürfen nicht in Angst und Schrecken verfallen”, mahnte er und rief dazu auf, dass sich alle engagieren müssen.

Christian Bergmann

Bild: Enrico Brissa und Bernhard Vogel im Gespräch (Foto: eat archiv)

Hinweis:
Auf unserem YouTube-Kanal finden Sie einen Mitschnitt des  Podiumsgesprächs: https://youtu.be/rW-DFSTdqCo

Gespräch

“Schwarz Rot Gold” –  Podiumsgespräch mit Dr. Enrico Brissa und Ministerpräsident a. D. Dr. Bernhard Vogel am 30. September 2021. Moderation: Udo Hahn (links im Bild).

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