„Eine eigenwillige und ungeduldige Frau der höchsten Ansprüche“
“Wenn sie über Vergangenheit spricht, so tut sie das um ihrer und unserer Zukunft willen.” Das sagte der Literaturwissenschaftler Peter Demetz über Ruth Klüger in seiner Laudatio anlässlich des Marie Luise Kaschnitz-Preises, den Klüger 1994 erhielt. Die Schriftstellerin ist jetzt verstorben. Ein Nachruf von Alix Michell
Am 30. Oktober 1931 wurde in Wien ein Mädchen namens Susi Klüger geboren, Tochter eines jüdischen Gynäkologen und seiner Frau. Es sollte sich schon bald mit der jüdischen Tradition der Familie solidarisieren, sodass sie sich als Siebenjährige selbst einen neuen Namen gab: Fortan wolle sie Ruth heißen. In diesem identitätsstiftenden Gestus des Kindes offenbart sich eine Eigenständigkeit und Konsequenz, die das Leben und Wirken der Ruth Klüger bis zum Schluss auf bezeichnende Weise prägen sollte. Eine Eigenständigkeit, die auch die Erfahrung des Nationalsozialismus von Kindesbeinen an nicht brechen konnte. Nicht die Demütigungen, die ihre Eltern auf offener Straße vor dem Kind erdulden mussten, nicht die Zeit, die sie gezwungen war in verschiedenen Konzentrationslagern zu verbringen.
Im Alter von elf Jahren wurde Ruth Klüger gemeinsam mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, es folgten Jahre in Auschwitz-Birkenau, Christianstadt und in einem Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen. 1945, kurz vor Kriegsende, gelang ihr mit der Mutter während eines Todesmarsches die Flucht. Der Vater, der nach Frankreich geflohen war, ohne die Familie nachholen zu können und der Halbbruder, den die Mutter nicht aus Prag nach Wien hatte holen können, überlebten das NS-Regime nicht.
1947 emigrierte Ruth Klüger in die USA, um in New York ihr an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Regensburg begonnenes Studium fortzusetzten. Es folgte ein Master of Arts und eine germanistische Doktorarbeit über das Epigramm. Ein literaturwissenschaftlicher Prozess gegen die Gräueltaten der deutschen Sprache ihrer Jugend? Man denke beispielsweise an die Aufschrift des Auschwitzer Tors. Diese dort und an vergleichbaren Orten verbrachten Jahre der frühen Adoleszenz prägten nicht nur ihre literaturwissenschaftliche Arbeit, auch arbeitete sie diese in der 1992 erschienen Autobiographie weiter leben. Eine Jugend auf. Neben vielen weiteren Publikationen folgte 2008 das ebenfalls autobiografische Werk Unterwegs verloren, das von ihrem Leben nach der Emigration und in den Vereinigten Staaten erzählt sowie der Lyrikband Zerreißproben (2013), in welchem erstmalig ihre seit 1944 verfassten Gedichte veröffentlicht wurden. Schon früh war das Schreiben Teil ihres Lebens, wenn nicht ihres Überlebens, des Aushaltens des Grauens ihrer frühen Jahre.
Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet. So erhielt sie 2007 den Lessing-Preis und 2016 den Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten im Rahmen des Bayerischen Buchpreises. Früher noch, 1994, wurde ihre literarische Arbeit an der Evangelischen Akademie Tutzing mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis gewürdigt. Der eingangs zitierte Prof. Dr. Peter Demetz betonte in seiner Laudatio: “Die Schriftstellerin Ruth Klüger ist, im alten Sinne des Wortes, eine eigenwillige und ungeduldige Frau der höchsten Ansprüche, die sie an sich selbst und an uns andere stellt”. Es ist diese Eigenwilligkeit – oder Eigensinnigkeit –, die Ruth Klüger schon als siebenjähriges Mädchen bewies, die auch den Duktus ihres Schreibens prägt, eine gewisse Sprödheit, die diesem gern bescheinigt wird. Ein nüchternes Bezeugen des Unvorstellbaren, das sich in Sätzen gestaltet, wie dem vielzitierten “In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab‘ Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.” Ruth Klüger stand dafür ein, die Dinge beim Namen zu nennen und für den Anspruch, Verantwortung zu übernehmen.
2016 schien es, als wäre es Deutschland gelungen, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Anlässlich des 71. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz hielt sie eine Rede der Anerkennung für die Willkommenskultur, die unsere Gesellschaft damals zu prägen schien. Seitdem ist viel passiert und das Bild der Willkommenskultur, die nach wie vor von größter Relevanz ist, hat Risse bekommen, Risse wie den Anschlag von Halle, der sich gerade jährt, um nur ein Beispiel zu nennen. Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft im Andenken an Ruth Klüger einen Weg finden, ihrem Anspruch auch künftig wieder gerecht zu werden, nur dürfen dieses Mal keine 71 Jahre vergehen.
Alix Michell, Studienleiterin für Kunst und Kultur, Digitales und Bildung
Bild: Archivbild von 1994: Ruth Klüger nimmt an der Evangelischen Akademie Tutzing den Marie Luise Kaschnitz-Preis entgegen. Überbringer ist der damalige Akademiedirektor Friedemann Greiner. (Foto: Manuela Klare)