Egon Bahr zum 100. Geburtstag
Er ist der Erfinder des Mottos der Ostpolitik Willy Brandts: “Wandel durch Annäherung”. Egon Bahr prägte es in einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing im Jahre 1963. Akademiedirektor Udo Hahn erinnert an den SPD-Politiker, der am 18. März vor einhundert Jahren geboren wurde.
In diesen Tagen wüsste man nur zu gerne, wie Egon Bahr die aktuelle Lage beurteilt: den Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine und die Folgen für Europa, die ganze Welt. Als Architekt einer neuen Ostpolitik, die Bundeskanzler Willy Brandt verkörperte, wäre er ein begehrter Gesprächspartner. Vor einhundert Jahren, am 18. März 1922, wurde er geboren.
Egon Bahr arbeitete nach 1945 zunächst als Journalist in West-Berlin. Von 1950 bis 1960 leitete er das Bonner Büro des RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor). 1956 trat er in die SPD ein. Von 1960 bis 1966 leitete er das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin und war Sprecher des von Willy Brandt als Regierendem Bürgermeister geführten Senats. Danach wechselte er mit ihm ins Auswärtige Amt. 1969 folgte er Brandt als Staatssekretär und Bundesbevollmächtigter für Berlin ins Bundeskanzleramt. Von 1972 bis 1974 amtierte Egon Bahr als Bundesminister für besondere Aufgaben. Bis 1976 war er Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, von 1976 bis 1981 Bundesgeschäftsführer der SPD. 1980 bis 1982 gehörte er der Unabhängigen Kommission für Internationale Sicherheits- und Abrüstungsfragen (“Palme-Kommission”) an.
In keinem Porträt des 2015 Verstorbenen darf der von ihm geprägte Leitsatz “Wandel durch Annäherung” fehlen. Ein Motto, das in einer Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing 1963 erstmals erklang und zur bestimmenden Formel werden sollte. Im Rückblick gilt sie als Schlüssel für Veränderungen historischen Ausmaßes. So kontrovers sie zunächst diskutiert wurde, so bahnbrechend waren die seinerzeit nicht vorhersehbaren Entwicklungen: Verträge mit der DDR, Polen und der Sowjetunion – später dann die Vereinigung und die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Ein Gewinn an Frieden, Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung – erworben mit den Mitteln der Diplomatie. Diese war auch deshalb erfolgreich, darin sind sich die Historiker einig, weil beide Seiten aus einer Position der Stärke am Verhandlungstisch mögliche Spielräume ausloteten. Bahr sprach stets von der “Politik der kleinen Schritte”.
Ungeachtet aller diplomatischen Bemühungen hat sich Wladimir Putin nicht abhalten lassen, die Ukraine zu überfallen. Der Grund, der ihn zu diesem eigentlich unvorstellbaren Schritt bewogen haben könnte, dürfte wohl darin liegen, dass er das Gleichgewicht der Stärke nicht mehr als gegeben sieht. Putin wähnt Russland im Vorteil – gegenüber einem vermeintlich schwachen Westen. (Nach-)Rüstung ist die Folge, um den Aggressor dauerhaft wieder in einen Verhandlungsprozess zu zwingen.
“Wandel durch Annäherung” ist als Leitmotiv keineswegs verbraucht. Es kommt die Zeit, da wird es wieder seine Kraft entfalten, denn allein der kooperative Ansatz macht Frieden erst möglich. Als die Evangelische Akademie Tutzing Egon Bahr 2012 mit dem “Tutzinger Löwen” ehrte, sagte er in seiner Dankesrede: “Die Modernisierung des Wandels durch Annäherung heißt heute: Globalisierung durch Annäherung.”
Udo Hahn
Der Autor leitet die Evangelische Akademie Tutzing
Bild: Egon Bahr zum Politischen Club im Juni 2013 in Tutzing (Foto: Haist/eat archiv)
20 Jahre nach “Wandel durch Annäherung” zur Bilanz der neuen Ostpolitik: Egon Bahr 1983 zu Gast an der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Gerd Drahn)