Drei Fragen an … Nina Weller

Wie wird der Westen in Russland wahrgenommen, welches Bild wird von ihm konstruiert und warum? Um Fragen wie diese ging es im Vortrag “‘Der Westen im Osten’. Konstruktionen des Westens in der russischen Populärkultur” von Dr. Nina Weller während unserer Tagung “Der Westen – Zur Zukunft einer transatlantischen Idee”. Wir haben ihr dazu drei Fragen gestellt.

Die Slawistin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Dr. Nina Weller forscht am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zum Thema “Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg” am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Bei unserer Tagung “Der Westen – Zur Zukunft einer transatlantischen Idee” referiert sie darüber, wie “der Westen” in der russischen Populärkultur konstruiert wird.

Evangelische Akademie Tutzing: In Europa hat man den Eindruck, dass für Russland der Westen all das verkörpert, was man in Russland nicht sein will. Woher kommt dieses massive Abgrenzungsbedürfnis? 

Dr. Nina Weller: Die Abgrenzung gegenüber dem sogenannten kollektiven Westen ist in den russischen Staatsmedien omnipräsent und dient zur ideologischen Untermauerung von Desinformation, Verschwörungserzählungen und Propaganda, um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen und die russische Bevölkerung auf Patriotismus, traditionelle Werte und imperialen Großmachtstolz einzuschwören. Das gängige Narrativ, dass die Ukraine “befreit” und “entnazifiziert” werden müsse, ist Teil der umfassenden Erzählung, der zufolge Russland von außen wie von innen von Feinden bedroht sei und die eigentliche Schuld an diesem Krieg die Nato und ihre westlichen Verbündeten haben, weil sie schon seit 1997 unstatthaft nahe an die russische Grenze herangerückt seien und letztlich Russlands Vernichtung anstrebten.

Die Angst vor dem übelwollenden Ausland, das Russland von allen Seiten einkreist und auch von innen vergiften möchte, wird durch die zynisch und hochprofessionell agierende Propagandamaschinerie schon seit Jahren geschürt und ist in der russischen Bevölkerung weit verbreitet. Russland wird als Beschützer der Zivilbevölkerung, als Friedensstifter in der Ukraine und als Bewahrer konservativer Werte der “Russkij Mir” gesehen: für einen starken Staat, für den orthodoxen Glauben und für die traditionelle Familie – Werte, die man vom verdorbenen Westen bedroht und dort schon längst zerrüttet sieht. Die antiwestlichen Trommeln und patriotischen Mobilisierungskampagnen wurden bereits lange vor Beginn des Kriegs 2014 im Donbass gerührt und unter Putin in der Rhetorik der Rückkehr zur alten sowjetisch-imperialen Größe kräftig ausgebaut. Die Propagierung einer militaristischen Vision nationaler Identität im Konflikt mit einem bösartigen Westen wurde mit Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche geradezu zu einer christlich-sakralen Angelegenheit umgedeutet und gipfelte jüngst im Narrativ des Kampfes gegen “westlichen Satanismus”.

Welche Bilder vom Westen finden sich heute in der russischen Populärkultur?

Wie überall gibt es auch in der russischen Kultur ein breites und vielfältiges Spektrum populärkultureller Formate und Inhalte. Wie in vielen anderen Ländern boomten in den letzten fünfzehn Jahren auch hier historische Themen. Unterschiedliche Medien wie TV- Serien, Mainstreamfilme, Comics, Musikvideos, Computerspiele u.a. spielen eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion oder beim Hinterfragen kollektiver Geschichtsbilder. Sie trugen sowohl zu einer erinnerungskulturell aufklärenden Reflexion der Vergangenheit als auch zu einer affektiv aufgeladenen Ideologisierung der Geschichtsinterpretation bei.

Ich habe mich mit extremen Beispielen der historisch-phantastischen Unterhaltungsliteratur der frühen 2000er Jahre befasst, die eine radikale nationalpatriotisch-revanchistische Weltsicht vermitteln. So etwa in Zeitreise-Geschichten, die junge Männer aus der russischen Gegenwart in der Kampfrealität des Zweiten Weltkriegs transportieren und den Sieg der Sowjetunion über den deutschen Faschismus wieder und wieder durchspielen und so optimieren, dass der patriotische Siegesstolz bis in die Gegenwart reicht. Es gibt in Literatur, Film und anderen Medien der letzten Jahre zahlreiche Beispiele für eine imperialistische Glorifizierung der russischen Geschichte, mit Vereinnahmung der Kiever Rus’ als russischem Ursprungsmythos, Pathetisierung der Zarenzeit, Heroisierung von Armee und Militär, Beschönigung des Stalinismus und der Sakralisierung des Sieges im “Großen Vaterländischen Krieg”, die jegliche komplexere Reflexion der Vergangenheit auf die revanchistische Idee einer nationalen und zivilisatorischen Wiedergeburt Russlands reduzieren.

Derartige reaktionär-imperialistische, anti-westlich aufgeladene Narrative sind leider inzwischen zum Mainstream geworden, wie wir zum Beispiel in vielen russischen Politik-Talkshows sehen können. Manche Werke sind teils erschreckend nah an der Realität, wie zum Beispiel Michail Jurjews Buch “Das dritte Imperium” (2006), das den Wunschtraum von Russland als agressiv-expandorischem Riesenimperium ausformuliert und darin Szenen vorwegnimmt, wie sie sich seit 2014 fast genauso abgespielt haben.

Sie forschen zu Erinnerungskulturen, Populärkulturen und Gegenwartsliteraturen in Belarus, Russland und der Ukraine. Dort wird unter anderem der Begriff “Westsplaining” verwendet. Was bedeutet er und wie ordnen Sie ihn ein?

Der Begriff “Westsplaining” lässt sich nicht direkt aus diesen Forschungsschwerpunkten herleiten und ich würde sagen, dass er gar keine so breite, etablierte Verwendung in osteuropäischen Ländern hat. Er hat aber in der Tat in den letzten Jahren in jenen intellektuellen und publizistischen Debatten eine Konjunktur erfahren, in denen über Deutungshoheiten zur Einordnung historischer und aktueller politischer Ereignisse in Ostmitteleuropa gerungen wird und die solche imperialen und westlich perspektivierten Sprecherpositionen kritisch diskutieren, die aus einer etablierten westlichen Blickweise heraus eigenständige osteuropäische Sprecherpositionen ignorieren oder nicht ernstnehmen.

“Westsplaining” bedeutet also, analog zu Mansplaining, aus einer “Besserwisser-Haltung” selbst definierter oder eingeübter westlicher Autorität heraus, “besserwissend” über ostmitteleuropäische Interessen und Gegebenheiten zu sprechen, ohne ausreichendes Fach- und Erfahrungswissen zu haben. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine meldeten sich bekanntlich auch in Deutschland zahlreiche Prominente zu Wort, die ohne jegliche Osteuropaexpertise und mit emphatieloser Ignoranz sowohl gegenüber dem ukrainischen Recht auf Selbstbestimmung als auch gegenüber der Diktatur- und Postkommunismusforschung aus Osteuropa über Schaden-Nutzen-Kalküle für die Ukraine im Krieg fachsimpelten und dabei Ostmitteleuropa, außer Russland, eher als Objekt denn als Subjekt der Geschichte betrachten.

In einer von mir mitherausgegebenen Anthologie haben wir 2023 publizistische Texte von größtenteils ostmittel-europäischen Autor:innen versammelt, die sich mit dieser Art des “Westsplainings”, und einer damit verbundenen Geschichtsdeutung, die sich teils die imperialen Ambitionen Russlands längst zu eigen gemacht hat, kritisch auseinandersetzen. Dennoch ist der Begriff auch für mich einer, der als politischer Begriff selbst immer wieder kritisch befragt werden muss, um seinerseits nicht in überholten und schiefen Oppositionen von West und Ost verhaftet zu bleiben.

Weitere Informationen:

Dr. Nina Weller ist Slawistin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und forscht zu Erinnerungskulturen, Populärkulturen und Gegenwartsliteraturen in Osteuropa (Belarus, Russland und der Ukraine). Zum Profil

Die Tagung “Der Westen – Zur Zukunft einer transatlantischen Idee” findet vom 28. – 29. Oktober 2024 an der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Mehr dazu hier.

Bild: Dr. Nina Weller (Foto: ©MaxZerrahn)

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