Doppelgeburtstag: Bundesrepublik und Grundgesetz werden 75
Am 23. Mai 2024 wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Ein Grund zum Feiern, meint Akademiedirektor Udo Hahn, und ein Anlass, das Bundesverfassungsgericht besser abzusichern sowie eine neue Staatszielvorgabe aufzunehmen: den Kampf gegen Antisemitismus.
Keine Frage: Die Demokratie garantiert Grundrechte, welche die Teilhabe aller Menschen an der politischen Willensbildung und am gesellschaftlichen Leben möglich machen. Sie haben der Bundesrepublik und ab 1990 dem wieder vereinten Deutschland eine Stabilität verliehen – ungeachtet aller Krisen. Nach dem Ersten Weltkrieg, nach der ersten parlamentarischen Demokratie – der Weimarer Republik –, nach der Diktatur des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg war dies keine Selbstverständlichkeit.
Zu den Erfolgsfaktoren der Demokratie gehören eine unabhängige Justiz, eine freie Presse sowie eine weltoffene Zivilgesellschaft. Autokratien entstehen, indem sie genau diese Säulen beschädigen. Und in der Diktatur ist von ihnen gar nichts mehr übrig.
Demokratien sind und bleiben Sehnsuchtsorte für all jene, denen Grundrechte verweigert, Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt und Lebensbedingungen durch Krieg und Vertreibung erschwert werden. Zugleich sind weltweit Autokratien auf dem Vormarsch und Diktaturen festigen ihre Macht.
Die Entwicklungen der letzten Jahre mit dem Erstarken rechtsradikaler Kräfte, mit der Zunahme von Rassismus und Antisemitismus, Nationalismus, Hass und Hetze geben Anlass zur Sorge. Ist die Demokratie bei uns gefährdet? Sie ist auf alle Fälle in Bedrängnis, aber nicht wehrlos. Positiv formuliert: Sie ist wehrhaft. Dafür haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes gesorgt, ohne dass sie alle Versuche, ihr Fundament zu unterminieren, vorausahnen konnten.
Ein Stabilitätsanker Deutschlands ist das Bundesverfassungsgericht. Die Entwicklungen in anderen Ländern zeigen jedoch, wie eine unabhängige Justiz ausgehebelt werden kann. Das könnte auch in Deutschland passieren. Seit geraumer Zeit wird deshalb darüber diskutiert, wie das Bundesverfassungsgericht vor dem Zugriff durch Populisten und Demokratiefeinde geschützt werden könnte. Die ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle und Hans-Jürgen Papier, haben sich jetzt für entsprechende Vorkehrungen ausgesprochen. Bundestag und Bundesrat sollten handeln. Jetzt.
Ein weiterer Handlungsansatz dreht sich um die Staatszielbestimmungen, die im Grundgesetz genannt werden. Hierunter fällt zum Beispiel der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere (Art. 20a GG). Im Gegensatz zu Grundrechten sind sie nicht einklagbar, denn es handelt sich nicht um subjektive Rechte. Staatszielbestimmungen sind dennoch wichtig. Sie schärfen das Bewusstsein. Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre wäre es nur folgerichtig, den Kampf gegen Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens als Staatsziele im Grundgesetz und in den Verfassungen der Bundesländer zu verankern. Diese Forderung erhob gerade Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle. Der Handlungsauftrag für Staat und Gesellschaft bekäme damit noch mehr Gewicht. Seine Umsetzung ist dringend geboten und sollte von den Kirchen unterstützt werden.
Udo Hahn
Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing
Weitere Informationen zum Thema:
- 70 Jahre Grundgesetz – “Was ist unsere Verfassung wert?”
EPD-Dokumentation der Sommertagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing vom 21. bis 23. Juni 2019. Hier das PDF abrufen - Die Zukunft unserer Demokratie
Schriftliche Dokumentation mit allen Beiträgen der Sommertagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit der Theodor Heuss Stiftung, erschienen im August 2022. Hier das PDF abrufen
Bild: Akademiedirektor Udo Hahn (Foto: Haist / eat archiv)