Die Verfassung, die uns verbindet

Was ist es, was in Zeiten der Beschleunigung und Entgrenzung Gesellschaft zusammenhält? Peter Küspert hat in der aktuellen Kanzelrede ein Plädoyer für die integrative Kraft der Verfassung gehalten.

Als Thema seiner Rede hatte der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs „Was uns zusammenhält – Die Rolle der Verfassung in der pluralen Gesellschaft“ gewählt. Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, beschrieb in seiner Begrüßung in der Erlöserkirche in München-Schwabing Synonyme, die als Fliehkräfte in der Gesellschaft wirken. Durch Globalisierung, Digitalisierung, Beschleunigung und Entgrenzung sehe sich der Bürger großen Herausforderungen gegenübergestellt. Gesellschaft aber funktioniere nur dann gut, „wenn ihre Bürgerinnen und Bürger diese Herausforderungen bestehen und friedlich und respektvoll zusammenleben.“ Das geltende Recht sei ein Garant für ein gelingendes Zusammenleben. Das Grundgesetz beschreibe insbesondere in seinen ersten 20 Artikeln unverrückbare Werte und Prinzipien des Zusammenlebens. „Es sichert das friedliche Zusammenleben in Deutschland – und zwar in Freiheit und Pluralität. Damit dies so bleibt, muss es von allen hier lebenden Menschen akzeptiert und respektiert werden.“, so Hahn weiter.

An diesem Punkt knüpfte die Kanzelrede von Peter Küspert an. Es sei eines der Phänomene unserer Zeit, dass Menschen Vorgaben nicht mehr nur akzeptieren, weil sie „von oben“ kommen. Auch Richterinnen und Richter spürten das in ihrer Arbeit. Weit mehr als früher seien sie gefordert, ihre Entscheidungen zu erklären – sowohl den Beteiligten als auch der Öffentlichkeit. Das sei, so Küspert, „für sich genommen kein Schaden“. Im Gegenteil sogar: Es sei eine Aufgabe des mündigen Bürgers, kritisch zu hinterfragen.

Die „innere Obdachlosigkeit“ und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft

Gleichwohl würden er und seine Kolleginnen und Kollegen ein schwindendes Vertrauen in die Justiz als Institution feststellen. Ein Phänomen, was auch für andere Institutionen gelte. Das „stärkere Selbstbewusstsein des Einzelnen, kritische Distanz zu Institutionen, aber auch eine wachsende Individualisierung von Standpunkten“, seien die Gründe, die zu einer Frage führe, die ihn umtreibe: „Was ist eigentlich noch das Verbindende und Verbindliche in unserer Gesellschaft und Bürgergemeinschaft?“

Parteien verlören an Mitgliedern, auch Kirchen kämpften seit Jahren mit vermehrten Austritten, ehrenamtliche Organisationen hätten Nachwuchssorgen, Familien würden kleiner. Hinzu kämen „antisolidarische Affekte“, wie sie sich auch in der Verrohung von Sprache und Kommunikation äußern würden. Das Ergebnis: verunsicherte Menschen. „Wo die Bindungskraft von Institutionen fehlt, kann das Gefühl von Entwurzelung und von „innerer Obdachlosigkeit“ zunehmen.“, so Küspert. Das habe Auswirkungen auf den Kern der sozialen Gemeinschaft.

Der Verfassung komme als Faktor für den Zusammenhalt einer Gesellschaft immer größere Bedeutung zu. „Eine Verfassung kann das Band sein, das eine gemeinschaftsgebundene Identität von Bürgern eines Staates begründet oder erhält und die Grundordnung für das Zusammenleben im Staatsverband bildet. Verfassungen haben eine ideelle und eine normative Dimension.“

Das Rechtsstaatsprinzip mit Gewaltenteilung und Gewaltmonopol des Staates sei für viele so selbstverständlich, dass man sich üblicherweise scheue, die Aufteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zu erwähnen. Küspert jedoch war es wichtig, in seiner Kanzelrede darauf einzugehen. Selbst in modernen Industrienationen sei diese Aufteilung „alles andere als ungefährdet“. Als Beispiele nannte er die USA, Türkei, Polen und Ungarn oder auch Rumänien, in denen rechtsstaatliche Prinzipien nicht nur verhöhnt, sondern auch geschwächt werden. Die Linie, die damit verfolgt werde, werde nicht selten mit einer „antiliberalen Demokratie“ (Timothy Garton Ash) begründet. Sie wolle Auffassungen der Mehrheit gegen eine Minderheit durchsetzen. Als Beispiel nannte Küspert etwa die gleichgeschlechtliche Ehe oder Fragen der Zuwanderung.

Dazu gab er zum einen die Grundrechte betroffener Personen zu bedenken. Weit schwerer wiege darüber hinaus der Abbau unverzichtbarer demokratischer Grundprinzipien – wie etwa der Gewaltenteilung. Küspert begründete das so: „Denn um dem Mehrheitswillen ausreichend Geltung zu verschaffen, ist es aus Sicht der jeweiligen Regierungen notwendig, Befugnisse der Justiz zu beschneiden und die Kontrolle über die Gerichte zu verstärken, unter anderem durch politischen Einfluss auf die Richterernennung, die Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen und Maßnahmen der Exekutive und die nachträgliche Aufhebung von Gerichtsentscheidungen. Eine Demokratie, die Gewaltenteilung ernst nimmt, misstraut aber gerade nicht ihren eigenen Bürgern und der Opposition, sondern erleichtert es ihnen vielmehr, ihre Rechte vor unabhängigen Gerichten durchzusetzen.“

Auch in Deutschland habe es dazu Diskussionen gegeben. Küspert erinnerte an das Statement eines deutschen Politikers, der anlässlich des Falls Sami A. und seiner Abschiebung die Richter dazu aufrief, bei ihren Entscheidungen das „Rechtsempfinden der Bevölkerung“ im Blick zu haben. – Eine krude Verkennung der Lage, schließlich sei das einzige, an das Richterinnen und Richter gebunden seien: Recht und Gesetz.

Das sei es im Übrigen auch, was darüber hinaus sie Menschenwürde von Personen schütze, die verdächtig würden, eine Straftat begangen zu haben oder straffällig geworden sind. Jeder Mensch habe einen Anspruch auf die Achtung seiner Würde, so Küspert.

Gerade für vermeintliche Außenseiter könne die Verfassung als „Kitt“ wirken

Durch die im Grundgesetz verankerten Werde, sei festgelegt: „Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen.“ Dennoch würde das nicht bedeuten, dass der Staat damit den einzelnen Menschen aus seiner Verantwortung für die Gemeinschaft entlassen würde. Der Bürger habe eine „Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen zu erfüllen.“ Und noch ein weiterer Punkt lag Küspert am Herzen: dem selbstbewussten Eintreten für Demokratie und Rechtstaatlichkeit.

Die Verfassung böte gerade auch denen „einen Raum der Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten, die mit bestimmten Umständen unzufrieden sind.“, so Küspert. Auch für vermeintliche Außenseite könne und solle die Verfassung der „Kitt“ sein, der sie an die Gemeinschaft bindet. Sie verlange aber auch, „dass beim Zusammenleben und auch beim Streit ein bestimmter Grundkonsens gewahrt bleibt.“ Dazu gehöre die Achtung der Menschenwürde und das Einhalten rechtsstaatlicher Regeln.

Küspert forderte zum Abschluss seiner Kanzelrede eine bessere Umgangskultur im Zwischenmenschlichen. Er sagte: „Die Hasskultur in den sozialen Netzwerken, die abnehmende Bereitschaft zum Kompromiss und der Hang zum Rigorismus, die Verklärung der eigenen Meinung zur politischen Mission im Glaubenskrieg, die Abneigung gegen alles Unübersichtliche und Schwierige, das sich nicht mit einem Faustschlag auf den Tisch lösen lässt: All dem liegt am Ende die Frage zugrunde, wie Menschen miteinander umgehen. Lösungsansätze dafür sind ja in unseren Verfassungen durchaus angelegt: Vertritt keine Auffassungen, die die Menschenwürde antasten können. Lass jedem seine Freiheit, wenn sie anderen nicht schadet.“

Die Evangelische Akademie Tutzing organisiert die Kanzelreden zweimal pro Jahr in Zusammenarbeit mit dem Freundeskreis der Akademie. Die nächste Kanzelrede findet am 20. Oktober 2019 statt.

dgr

Die komplette Kanzelrede von Peter Küspert können Sie hier nachlesen.

Die Begrüßungsworte von Akademiedirektor Udo Hahn finden Sie hier.

Bild oben: Peter Küspert auf der Kanzel der Erlöserkirche in München-Schwabing. (Foto: dgr/eat archiv)

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