„Die Arbeit an Gemeinsamkeiten tut not“
von Pressestelle × am 23. Juni 2020„Polen: Opfer – Nachbar – schwieriger Freund“ war der Titel der Sommertagung des Politischen Clubs, die nun als Online-Veranstaltung stattfand. Wolfgang Thierse diskutierte am 19. Juni mit dem Politikwissenschaftler Dieter Bingen und dem Historiker Krzysztof Ruchniewicz. Der Mitschnitt des Gesprächs ist auf dem YouTube-Kanal der Akademie abrufbar.
Die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen sind komplex und kompliziert. Beide haben eine lange gemeinsame und belastete Geschichte. Deutschland war beteiligt an den drei Teilungen Polens. Polen war das erste Opfer des faschistischen Eroberungskrieges und hatte besonders unter der Naziherrschaft zu leiden, mit vielen Millionen Toten und entsetzlichen Zerstörungen. Nach dem Krieg haben beide Länder Vertreibungen erlebt, viele Millionen Deutsche haben ihre Heimat verloren, die Teil Polens wurde. Ein über drei Jahrhunderte belastetes Verhältnis, das im historischen Gedächtnis der Polen lebendig geblieben ist. Auch in Zeiten der deutschen und europäischen Spaltung war das Verhältnis nicht spannungsfrei.
75 Jahre nach Ende des Krieges und dreißig Jahre nach der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze diskutierte der frühere Bundestagspräsident und Leiter des Politischen Clubs, Dr. Wolfgang Thierse mit Prof. Dr. Dieter Bingen (Politikwissenschaftler und Zeithistoriker, ehem. Direktor des Deutschen Poleninstituts Darmstadt) und Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz (Leiter des Lehrstuhls Geschichte an der Universität Wroclaw, Direktor und Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte des dortigen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien).
Dieter Bingen gab einen Abriss über die Geschichte des nachbarschaftlichen Verhältnisses beider Länder. Beide seien seit eintausend Jahren Nachbarn, doch es sei bis heute eine „unbekannte Nachbarschaft“, die es wiederzuentdecken gelte – vor allem für Deutsche. Bingen sprach von einer „Asymmetrie der Wahrnehmung“, die in der Geschichte oft zu Ungunsten Polens und zu tragischen Ereignissen geführt habe. Diese Asymmetrie bestehe bis heute fort.
Was beide Nachbarn voneinander trenne, sei der Zugang zur Geschichte, sagte Krzysztof Ruchniewicz. Er forderte einen neuen Zugang zum Verhältnis beider Länder. Was die Wahrnehmung der Deutschen von Polen betreffe, werde zudem noch immer zu wenig auf kulturelle, künstlerische, wissenschaftliche und zivilgeschichtliche Errungenschaften geschaut.
Dieter Bingen verwies hier etwa auf die erste schriftliche Verfassung in Europa, die es in Polen gegeben habe – noch zwei Jahre vor der französischen Verfassung. Auch der Beitrag der Solidarnosc-Bewegung im Prozess der europäischen Friedensbewegung und dem Ende des Kalten Krieges werde noch immer zu wenig gewürdigt.
Aber auch um aktuelle Themen ging es in dem Gespräch, das von Akademiedirektor Udo Hahn moderiert wurde: etwa die Justizreform in Polen, das Problem der europäischen Flüchtlingsverteilung, die Forderung nach einem Polen-Denkmal in Deutschland oder auch die Reparationsforderungen Polens sowie die Erwartungen, die an Deutschland hinsichtlich der kommenden EU-Ratspräsidentschaft geknüpft sind. Ruchniewicz sagte, eine Erwartung in Polen sei, dass „die Debatte über die Zukunft Europas jetzt gestartet wird“.
„Die Arbeit an Gemeinsamkeiten tut not“, hatte Thierse, der 1943 in Breslau zur Welt kam, in seinem Eingangsstatement zur Debatte gesagt. Diese Feststellung bleibt zugleich eine Aufgabe, die es weiterhin zu verfolgen gilt – sowohl politisch als auch ökonomisch, zivilgesellschaftlich und kulturell.
Die vollständige Aufzeichnung der Veranstaltung können Sie auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing (#EATutzing) ansehen oder direkt über diesen Link.
Bild: Dieter Bingen und Krzysztof Ruchniewicz, Diskussionspartner von Wolfgang Thierse während der Online-Veranstaltung „Polen: Opfer – Nachbar – schwieriger Freund“ (Zoom-Screenshot: dgr/eat archiv)
Politischer Club als Online-Konferenz: Wolfgang Thierse während des Gesprächs mit Dieter Bingen und Krysztow Ruchniewicz zum Thema Polen. (Zoom-Screenshot: dgr/eat archiv)