Die Akademie als “Startrampe und Entdeckerwerkstatt”
Mit Kunst junge Menschen bestärken – dieses Ziel verfolgte Studienleiterin Julia Wunderlich in dem einzigartigen Format: “Your Voice!” an der Evangelischen Akademie Tutzing. Etwa 50 Teilnehmende, die meisten von ihnen zwischen elf und 27 Jahren, ließen sich durch Poetry Slammen, Comiczeichnen und Improtheaterspielen empowern – künstlerisch, aber auch politisch. Weitere Einzelheiten im Interview mit Julia Wunderlich.
Evangelische Akademie Tutzing: Frau Wunderlich, Kunst ist Ausdruck, Sicht auf die Welt – und Ventil. Was bedeutet sie für junge Menschen?
Julia Wunderlich: Für junge Menschen kann Kunst auf jeden Fall ein Medium sein, um sich hör- und sichtbar zu machen und der Gesellschaft ihre Positionen zu zeigen. Ich finde, zur Zeit gibt es für junge Menschen nur wenige Freiräume, die schlicht dem Selbstzweck dienen, sich zu verwirklichen, zu entfalten und selbst politische Kunst zu schaffen. Aber das ist ein wichtiger Punkt für die Persönlichkeitsbildung von jungen Menschen. Gleichzeitig ist die Kunst auch ein Schutz für junge Menschen, denn es kann auch einfach nur eine Rolle gewesen sein, die man im Improtheater gespielt hat oder es war eine Kunstfigur im Comic, die über diese Themen berichtet. Bei “Your Voice!” konnten wir Freiheit und Freiraum im Digitalen erlebbar machen und zum aktuellen Lebensalltag junger Menschen einen Kontrapunkt setzen.
Wie groß ist die Sehnsucht junger Leute nach Kunst in Coronazeiten?
Ich habe bei den jungen Menschen in dieser Veranstaltung ein sehr großes Bedürfnis nach Kunst erlebt. Auch Jugendstudien spiegeln das. Die ganz spezielle Kombination aus dem Kulturerlebnis mit der Kunst an sich, der Gemeinschaft mit dem Freundeskreis und der Unbeschwertheit, die man in Kultur erleben kann, ist ganz typisch für das junge Alter. Und das fehlt. Die Freiheit ist für diese Generation gerade so stark eingeschränkt, wie noch nie in ihrem Leben. Sie können derzeit nicht von einem reichen Erinnerungsschatz an Kulturerlebnissen, im Vergleich zu Erwachsenen, zehren. Kunst in Präsenz, das ist ein einzigartiges Erlebnis.
Daneben sind durch die Digitalität neue Kanäle entstanden, mit denen sich junge Menschen verstärkt ihre eigenen Plattformen schaffen, um ihre Kunst z.B. über Social Media und Blogs sichtbar zu machen. Darin sehe ich zugleich eine große Demokratisierung in der Kunst, weil junge Menschen oder vor-professionelle Kunstschaffende so unabhängig von Pressekanälen oder TV-Produktionen sind. Auf anderer Ebene ist neben derzeitiger Kunst im Digitalen die existenzielle Not hauptberuflicher Künstlerinnen und Künstler ein drängendes politisches Thema, auch das diskutierten wir auf der Tagung.
Welche Momente während Ihrer Workshop-Tagung haben Sie als besonders empfunden?
Mich hat das Wir-Gefühl, das in diesem virtuellen Tagungsraum entstanden ist, sehr beeindruckt. Es wurde schnell Vertrauen aufgebaut, um einen eigenen Poetry Slam-Text über persönliche Erlebnisse mit Sexismus oder Erschöpfung im Homeschooling zu schreiben und der Gruppe zu präsentieren.
Außerdem hat mir total imponiert, dass sich auch junge Menschen angemeldet haben, die keine professionellen Kunstschaffenden sind, sondern die gerade anfangen, ihr Talent zu erkunden und Kunst bislang eher direktiv aus der Schule erlebt haben. Die Akademie hat hier als Startrampe und Entdeckerwerkstatt gedient, um junge, neue, prä-professionelle und gleichzeitig professionelle Kreative von ganz früh an kennen zu lernen. Junge Menschen haben damit eigene Kunst erschaffen und mit anderen Kunst geteilt.
Welche Themen brannten jungen Leuten vor allem auf den Nägeln?
Die Aussagen, die sie in ihren Werken transportierten, waren thematisch ganz breit und höchst politisch. Sie haben von Bodyshaming über Fast Fashion oder die Missorganisation digitaler Schule im Lockdown gereicht. Der Reflektionsgrad war sehr hoch, das heißt, Jugend ist absolut sprechfähig und kann sich hier in breiter Themenvielfalt ausdrücken.
Das hört sich ein bisschen wie eine Antwort auf all jene an, die sagen “Jugendliche sind unpolitisch”.
Ja! Denn das Gegenteil ist der Fall! Die Jugend hat konkrete Lösungsideen und denkt auch unkonventionell und unpragmatisch. Sie hat aber zu wenig Raum. Es gibt das Recht auf Teilhabe, was meiner Meinung nach zur Zeit nicht eingehalten wird. Es würde sowohl Politik, Medien und Entscheidungsformate extrem bereichern, wenn junge Menschen eine Stimme haben, mitdiskutieren und mitentscheiden. Junge Menschen müssen als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebenswelt eingeladen sein und mitentscheiden, denn sie kennen ihre Lebenswelt am besten. Während alle anderen nur über die Jugend reden, wissen junge Menschen selbst, was sie brauchen. Meine Erfahrung ist: Sie denken ihr Lebenssystem in allen Rollen und Zuständigkeiten, auch ganz strukturell.
In welcher Rolle sehen Sie Kinder und Jugendliche in Coronazeiten?
In der Pandemie werden sie nur noch in ihren Rollen als Schüler, Schülerinnen und Studierende gesehen. Medial und politisch sind das fixe Rollen. Die Selbstentfaltung fehlt. Die Entwicklungsfenster sind begrenzt und es braucht jetzt andere Konzepte, um auch mal aus einer anderen Rolle junger Mensch sein zu können. Das passiert zum Beispiel in der außerschulischen Jugendarbeit. Mir fehlt das politische Konzept, um diese Freiräume – auch für die politische Bildung – wieder ermöglichen zu können. Ich würde sagen, dass wir auf der Online-Kunsttagung eine Vision und Utopie gelebt haben, um diesen Zeitraum der Entsagungen, der Rücksicht und des Verzichts zumindest im Digitalen als Freies erleben zu können.
Das Gespräch führte Dorothea Grass
Weitere Informationen:
Einen Bericht über die Veranstaltung “Your Voice! Be creative und meet online again” können Sie hier abrufen.
Im Online-Talk “Jugend auf Stopp – persönliche und politische Empowerment-Session” am 8. März sind Jugendliche und junge Erwachsene eingeladen, ihre Anliegen für das Jugend-Hearing von Bundesjugendministerin Franziska Giffey am 11. März einzubringen.
Bild: Studienleiterin Julia Wunderlich im Park der Akademie (Foto: dgr/eat archiv)