Der schwebende Surfer
“Alles kann ich durch Christus, der mir Kraft und Stärke gibt.” schrieb der Surfer Gabriel Medina gerade erst auf Social Media zu einem Foto, das ihn während der olympischen Spiele zeigt. Darauf schwebt er – samt Brett – über dem tosenden Meer. Das Bild ging innerhalb kürzester Zeit viral und wurde sogleich als “ikonisch” bezeichnet. Studienleiter und Pfarrer Hendrik Meyer-Magister inspirierte sowohl die Geschichte als auch der Vers aus Philipper 4,13 zu diesem Andachtstext.
Gabriel Medina ist ein brasilianischer Surfer und dreifacher Weltmeister. Gestern ging er bei den olympischen Surfwettbewerben auf Tahiti an den Start und erwischte die perfekte Welle. Zehn Punkte sind maximal möglich. Für seinen Versuch erhielt er fabelhafte 9,90 Punkte.
Und dann entstand dieses Foto. Was sehen Sie? Wasser am unteren Bildrand, aufgetürmt, unruhig. Hinter der zackigen Horizontlinie des Bildes der Himmel, aufgetürmt Wolken. Davor schwebt Gabriel Medina in seinem pinken und blauen Surfdress in aller Seelenruhe. Er steht senkrecht in der Luft, die lockigen Haare wehen im Wind etwas nach hinten. Der Körper ist gestreckt und doch entspannt. Unter dem Jersey zeichnen sich die Muskeln ab. Der rechte Arm ist in die Höhe gereckt, der Zeigefinger ausgestreckt. Vom Fuß nahezu waagerecht streckt sich die Leine, mit der er sein Surfbrett hinter sich herzieht. Es steht ebenfalls senkrecht in der Luft, nahezu in perfekter Symmetrie zu Medinas Körper. Ein Bild im Stillstand und doch voller Bewegung.
Eingefangen hat diesen ikonischen Moment der französische Fotograf Jeromé Brouillet. Wir blicken von hinten auf die Welle, die Medina gerade geritten ist. Hinter dem Wellenberg, den wir sehen, fällt das Wasser tief ab. Brouillet hat genau den Moment festgehalten, in dem Medina aus der Welle herausfährt und über den Wellenkamm springt – in der Pose eines Fußballspielers, der das Tor zur Weltmeisterschaft geschossen hat.
Maradona fällt mir ein. Die Hand Gottes – vielleicht schon aufgrund der ähnlichen Frisur der beiden Südamerikaner? Wir sehen den siegreichen “olympische Mensch”, den Heros, den Helden, der sich, die Kräfte der Natur und die anderen besiegt und hinter sich gelassen hat.
Medina schwebt über dem Wasser, der Schwerkraft scheinbar enthoben. Er geht nicht nur, wie Jesus über den See, nein er schwebt geradezu – so wie der ordnende Geist Gottes am Anfang aller Zeit über den tosenden Wassern.
Versuchen Sie für einen Moment die Augen zusammenzukneifen, so dass das Bild die Perspektive verliert, flächiger wirkt. Tritt uns da nicht aus einem Spalt in Raum und Zeit ein Heiland, ein siegreicher Retter, ein Überwinder entgegen? Hier ist er, die Lichtgestalt, kommt aus den Himmeln über den Wassern, um zu erlösen aus den Fluten des Lebens. Ein Held, ein Heiliger, ein Heiland kommt! ? Ja, möchte man nicht gar an die Christusstatue in Medinas brasilianischer Heimat denken?
Was ist Ihre Assoziation, woran denken Sie?
Medina hat diesem Bild eine eigene Bedeutung gegeben. Auf Social Media postete der Surfer das Bild und setzte den Vers aus Philipper 4,13 darunter: “Alles kann ich durch Christus, der mir Kraft und Stärke gibt.” Eine etwas andere Übersetzung des Textes, den die Lutherbibel übersetzt mit: “ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.”
Ein Fingerzeig in den Himmel – so lässt sich seine triumphale Geste dann auch verstehen. Plötzlich bekommt das Bild eine andere Botschaft: Schaut mich an, in meiner Kraft und Stärke und im Moment meines größten Triumphs – und doch ist da einer, der noch höher ist als die Wellen, die ich eben bezwungen habe. Gott ist es, der mir die Kraft gegeben hat. Gott ist es, der mich über mich hinauswachsen hat lassen. Gott ist es, der mich schweben lässt.
Dieser Gedanken bricht den einfachen Triumphalismus, das allzu glatte Heldentum, das aus dem Bild sprechen könnte. Das Bild bekommt Tiefe zurück, genauso der Mensch: er bleibt ein ambivalentes Wesen. Er ist eingespannt zwischen den Kräften der Erde und des Himmels – steht dazwischen, ist aus Staub gemacht und doch wenig geringer als Gott (Ps 8).
Interessant ist, dass auch der Philipperbrief, den Medinas zitiert, von der Ambivalenz des Menschen, der Ambivalenz des Paulus zeugt, die er in seinen Briefen immer wieder deutlich macht. So heißt es in den Versen 4,12 und dann 4,13 in der Lutherübersetzung:
4,12 Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden;
4,13 ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.
Der Mensch ist nicht einfach nur der olympische Heros, der gottgleiche Bezwinger der Gewalten. Er ist mal hoch, mal niedrig, mal nahe bei Gott, mal weit von ihm entfernt – mal edel, mal gut, mal hinter- und arglistig, mal überheblich, mal in Demut gefangen, er ist Gottes Sachverwalter in seiner Schöpfung und vermag doch nichts ohne seine Vollmacht. Er ist Sünder und Gerechter zugleich. So hat Martin Luther es formuliert. Das ist der biblische Mensch: er hat Tiefe und Facetten.
Häufig – und ich habe einmal kritisch nachgedacht: auch in meiner eigenen Frömmigkeit und meinen eigenen Andachten und Gottesdiensten – reden wir in der Kirche immer vom kleinen, vom defizitären Menschen, der nicht genügt, von der Schwäche des Menschen. Deshalb muss er erst von Gott getröstet, erlöst, ermutigt und ertüchtigt werden – also überhaupt in die Lage versetzt werden, sein Leben zu leben. Um die Tiefe und Ambivalenz des Menschen und seiner Beziehung zu Gott zu begreifen, hat das seinen guten Ort.
Aber heute Morgen rede ich nicht davon! Angesichts dieses Bildes will ich einmal von der anderen Facette, vom starken Menschen sprechen, von dem, der Stärke und Kraft von Gott bekommen hat, dessen Zuversicht Gott ist, in all seinem Können und seiner Freude an seinem Tun. Damit wir das genauso wenig vergessen, dass eben so der von Gott gesegnete Mensch auch ist: Kräftig, ikonisch, heroisch, ein Weltgestalter und -bezwinger, der sich nicht fürchtet, wenngleich die Welt unterginge, wie es in Psalm 46 so schön sagt, sondern die Wellen reitet, wie sie anbranden – und über ihren Kamm surft.
Ich will Ihnen eine Frage mit auf den Weg geben heute Vormittag: Wenn Sie auf das Bild schauen: Was können Sie so richtig gut? Auf welche Gaben und Talente sind Sie stolz? Worin sind Sie Weltmeister, hätten eine Medaille verdient? Egal, ob Sie im Rampenlicht stehen oder eher ein hidden champion sind! Vielleicht sind Sie gut im Sport, vielleicht ein brillanter Kopf, haben beruflich viel gestaltet oder sind privat eine gute Freundin oder ein treusorgender Ehemann, eine fürsorgliche Mutter oder ein fürsorglicher Vater? Mit welcher Begabung, welcher Kraft und Zuversicht hat Gott Sie bedacht, gesegnet und ins Leben geschickt?
Und vielleicht richten Sie sich heute einmal auf, Brust raus, Körper gespannt, Kopf hoch, Arm und Finger gespreizt und sind einfach mal stolz auf die Kraft und Stärke, die Sie haben. Keine Sorge: Sie müssen dafür nicht mit dem Surfbrett in den Starnberger See steigen – die Wellen dort sind ohnehin – und Gott sei Dank – viel kleiner.
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen, gesegneten Ferientag!
Amen.
Über den Autor und die Andacht
Dr. Hendrik Meyer-Magister ist an der Evangelischen Akademie Tutzing stellvertretender Akademiedirektor und Studienleiter für Gesundheit, Künstliche Intelligenz, Spiritualität und Spiritual Care. Vorliegende Andacht hielt er am 31. Juli 2024 für die Ferien-im-Schloss-Gemeinde. Jedes Jahr während der tagungsfreien Zeit verwandelt sich die Evangelische Akademie Tutzing in ein Hotel Garni. Dreimal die Woche bietet eine Studienleiterin oder ein Studienleiter aus dem Team der Akademie eine Morgenandacht für die Feriengäste an.
Bild: Hendrik Meyer-Magister schaut auf das ikonische Olympia-Foto von Surfer Gabriel Medinas (Foto: dgr / eat archiv)