„Der Mensch ist für mich wichtig“
Der Künstler Sebastian Hertrich schafft Werke, die eines der großen Themen unserer Zeit visualisieren: Digitalisierung. Seine Ausstellung „Vorprogrammiert“ ist anlässlich der Tagung „Digitalcourage“ an der Evangelischen Akademie Tutzing zu sehen. Im Interview erklärt er, wie seine Kunstwerke entstehen – und worum es ihm dabei geht.
Evangelische Akademie Tutzing: Herr Hertrich, Sie haben eine Ausbildung zum Holzbildhauer absolviert, danach Freie Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert und arbeiten nun als Freier Künstler in Erlangen. Ihre Ausstellung an der Akademie heißt „Vorprogrammiert“. Die Materialien, mit denen Sie arbeiten sind Acrylglas und Computerplatinen. Wie kam es dazu?
Sebastian Hertrich: Ich habe lange nach Alternativen für die Bildhauerei gesucht, um das Holz zu ersetzen. Das Holz steht in einer langen Tradition, doch an guten Techniken ist vieles schon besetzt. Ich habe mich also auf Materialsuche begeben und bin dann über Umwege auf diese beiden Materialien gekommen. Acrylglas habe ich entdeckt, weil ich damit schnitzen kann. Während des Bearbeitens entsteht eine Struktur, die maschinell nicht reproduzierbar ist.
Das heißt, Sie bearbeiten Acrylglas wie Holz?
Ja, mit Metallwerkzeugen wie etwa Beiteln, die eine bestimmte Form haben: Schnitzbeitel oder umgangssprachlich Schnitzeisen. Bevor ich jedoch mein Material bearbeite, modelliere ich. Meistens in Ton oder Gips. Dann übertrage ich die Form in das Acrylglas, mithilfe einer traditionellen Punktiertechnik. Weil das Acrylglas transparent ist und eine spezielle Lichtstreuung hat, erkenne ich Referenzpunkte mit dem bloßen Auge nur schwer. Durch die Punktiertechnik kann ich nachmessen. Anschließend hämmere ich den Rohling aus der Form. Was die Konsistenz anbelangt, ist Acrylglas ein bisschen wie eine Mischung aus Stein und Holz. Der Unterschied jedoch ist: Es gibt keine Holzmaserung, das Material splittert beim Bearbeiten ab. Es ist also nicht ganz ungefährlich, wenn ich Acrylglas bearbeite. Ich muss Schutzkleidung tragen.
Etwa Augenschutz?
Genau. Von einem Bekannten habe ich eine alte Skibrille bekommen – dadurch bin ich gesichert! Das Gute daran ist: Die Skibrille beschlägt nicht. Es ist ja eine sehr körperliche Arbeit, man kommt ordentlich ins Schwitzen. Die handelsüblichen Schutzbrillen beschlagen automatisch und sind daher für mich ungeeignet. Wenn man den Flow beibehalten will, hindert das.
Wie ist es dann bei Ihrer anderen Werkgruppe: den Computerplatinen?
Das ist zum Teil eine andere Produktionsweise. Wenn ich nur mit Computerplatinen arbeite, verteile ich über dem Gipsmodell Epoxidharz, um genau zu sein: GFK, glasfaserverstärkter Kunststoff. Das Material kommt aus dem Bootsbau. Dadurch werden gerade offene Formen einer Figur – wie etwa der Arm der „Nike“ – sehr fest. Die Figuren lassen sich einfacher transportieren. Gips würde an so einer Stelle brechen. Zum anderen lassen sich die Computerplatinen auf diesem Material hervorragend aufkleben. Manchmal verbinde ich auch beide Werkgruppen: Acrylglas und Computerplatinen, wie zum Beispiel bei der „Salomé“. Unter den Computerplatinen befindet sich allerdings kein Acrylglas, dazu ist das Material zu teuer.
Welches Material haben Sie bei der „Nike“, die nun bei uns im Foyer zu sehen ist, verwendet?
Im Inneren befindet sich ein Holzgerüst, darüber habe ich mit Gips modelliert, der zusätzlich mit GFK verstärkt ist. Darauf habe ich dann die Computerplatinen geklebt.
Wie viele Computer mussten denn für die „Nike“ ihr Leben lassen?
Das hatten sie schon vorher getan – das ist ja das Gute! Aber im Ernst: Das ist alles Recyclingmaterial, Zivilisationsschrott. Es ist relativ wertvolles Material, wertvoll für Materialrückgewinnungsprozesse, weil darin viele Edelmetalle verbaut sind. Alles in allem besteht die „Nike“ etwa aus 120 Mainboards.
Wie kommen Sie an das Material?
Das bestelle ich über E-Bay. Früher habe ich die Platinen selbst aus alten Computern herausgebaut, aber da brauchte ich auch nicht so viele. Ein weiterer Grund ist, dass ich für eine Skulptur immer die gleiche Farbe von Platinen brauche. Das alles einzeln zu sammeln, würde zu viel Zeit kosten. Ich kaufe die Platinen also im Zehn-Kilo-Konvolut, das entspricht etwa zehn bis 15 Mainboards.
Wann haben Sie damit angefangen, aus Computerplatinen Kunst zu machen?
2012 habe ich mein erstes Werk geschaffen. Dann kam eine Pause und zur Diplomarbeit als Freier Künstler 2014 habe ich mich wieder den Platinen zugewandt. Seitdem arbeite ich permanent damit.
Es kommt nicht selten vor, dass sich Künstler nach einer gewissen Zeit wieder einem anderen Werkstoff oder einer anderen Technik zuwenden. Könnte das bei Ihnen auch so kommen?
Das wird sicherlich so sein. Was dann kommt, kann ich natürlich nicht sagen. Ich habe ja noch meine zweite Werkgruppe, das Acrylglas. Da gibt es viele Kombinationsmöglichkeiten. Hinzu kommt: Momentan ist das Thema in aller Munde. Ich bekomme viel Zuspruch. Das Thema Digitalisierung wird noch eine Weile aktuell bleiben – die Entwicklung in der Kunst hat gerade erst begonnen. Es entstehen neue künstlerische Techniken, wie etwa die Holo-Technik. Es fehlten bislang einfach noch die Bilder für die neuen Metabegriffe wie Big Data, Internet, Smartphonetechnik. Wie kann man das alles visualisieren?
Die Digitalisierung betrifft viele Bereiche: etwa das Zwischenmenschliche oder die Arbeitswelt. Es gibt Berufe, die wegfallen, weil sie durch die elektronische Entwicklung ersetzt werden: die Bänker waren schon dran, nun ist das autonome Fahren ein Thema, das wird bald die Taxifahrer und Busfahrer betreffen. Ich selbst habe es ja als Holzbildhauer mitbekommen: Irgendwann war die CNC-Fräse viel billiger.
Ihre Ausstellung ist Bestandteil der Tagung „Digitalcourage“. Wo sehen Sie innerhalb der Tagung Ihren Platz?
Man kann diese Informationsflut aus ganz vielen Perspektiven betrachten. Die Medien haben ihr Informationsmonopol verloren. Das heißt: Informationen können ganz anders gestreut werden. Um bestimmte Sachen aufzudecken, braucht man nicht mehr unbedingt die Medien, es gibt ja Leute wie Edward Snowden. Das Thema Datenschutz ist ein weiteres. Durch das Internet sind rechtsfreie Räume entstanden. Da gibt es viel Klärungsbedarf. Was ist mit den Rechten der Menschen? Wem gehören welche Informationen? Große Konzerne bieten immer neue Apps an, wir benutzen sie und dadurch bedienen sich die Konzerne unserer Daten. Aber mit welchem Recht?
Ein weiteres Thema ist das Darknet. Da ist ein Raum, der zum Beispiel für Drogen- oder Waffenhandel dient. Er wird aber auch in Ländern wie China oder Syrien genutzt, um die starken Restriktionen des Informationsflusses zu umgehen.
Mir geht es um das dialektische Spannungsverhältnis zwischen all diesen Punkten. Die „Nike“ ist auf der einen Seite eine schöne Dame, aber auf der anderen Seite ist sie auch die Siegesgöttin. Sie symbolisiert den Siegeszug der elektronischen Entwicklung, den Sieg der Technisierung über den Menschen. Meine „Nike“ landet gerade, will das Zepter überreichen. Ist das nun gut oder schlecht? Das sind die Fragen, die ich anstoßen möchte.
Welche Räume eröffnet die Digitalisierung der Kunst?
Virtual Reality ist ein großes Thema. Wie realisiert man etwa in den virtuellen Räumen bestimmte Zeichnungen oder Kunstwerke? Und kann man sie wieder in unsere Realität zurückführen? Das ist ein großes Spannungsfeld, in dem momentan viel passiert.
Um welches Spannungsfeld geht es Ihnen?
Ich habe früher stark im kinetischen Bereich gearbeitet. Das heißt, ich habe Kunstroboter aus Elektroschrott gebaut und neu kombiniert. So sind dann Maschinen entstanden, die interaktiv waren. Das Problem war jedoch, dass sie unter den Ausstellungen, auf denen sie gezeigt und bedient wurden, gelitten haben. Irgendwann waren sie kaputt. Ich bin dann wieder einen Schritt zurückgegangen und habe mich gefragt: Was ist denn das Schöne, beispielsweise an den Werken von Rodin? Ich finde: Es ist die Momentaufnahme, die für immer konserviert ist. Es ist diese unglaubliche Spannung. Das war der Grund, warum ich nach sieben oder acht Jahren, wieder auf meine Holzbildhauerausbildung zurückgekommen bin: Der Mensch ist für mich wichtig, nicht das Objekt oder der Raum. Mit meiner Diplomarbeit habe ich angefangen, die Menschen in den Fokus zu stellen und ihnen jeweils ein neues Gewand neu zu geben. Das ist dann zum Beispiel transparent – was auch mit der Acrylglastechnik einhergeht. Außerdem gibt es die elektronische Komponente, wie sie durch die Digitalisierung aufgekommen ist. Bei mir erscheint sie in Form der Computerplatinen.
Gleichzeitig bin ich mir über die Kurzlebigkeit dieser Momentaufnahme bewusst. Was denken wir, wenn wir in zehn Jahren auf diese Werke schauen? Sagen wir dann: „Aha, so sah das damals aus“? Ist es so, wie wenn wir uns heute Installationen vom Nam June Paik mit 50 Fernsehern anschauen? Die Entwicklung geht so schnell vonstatten. Nicht jede Dystopie ist eingetreten. Es gab Kunstwerke, die nach dem Motto entstanden: „Die Welt ist ein riesiger Schrotthaufen aus rostendem Eisen und Metall.“ Und dann ist es doch anders gekommen. Der Schrott von damals ist heute richtig viel wert, denn die Rohstoffe sind kostbar und die Ressourcen relativ begrenzt. Wenn man sich vor Augen hält, unter welchen Bedingungen die Rohstoffe für die Computerplatinen abgebaut werden – das wollen die meisten lieber nicht so genau wissen. Auch das möchte ich mit meiner Arbeit thematisieren.
Die Fragen stellte Dorothea Grass.
Bild: Der Künstler Sebastian Hertrich (Foto: dgr/eat archiv)
Information: Die Ausstellung „Vorprogrammiert“ kann zwischen dem 4. März und dem 10. April 2019 nach vorheriger Vereinbarung (Tel. 08158-251-0) sowie am Samstag, den 30. März, und am Sonntag, den 7. April, jeweils zwischen 14.00 und 17.00 Uhr besichtigt werden. Eintrittspreis: 3€.
Einzelheiten zur Tagung „Digitalcourage“ finden Sie hier.