Zum Tod des Liederdichters Martin Gotthard Schneider
„Wenn es wirklich in den neunziger Jahren ein neues evangelisches Gesangbuch geben sollte, so hängt diese Entwicklung mit einer Initiative der Evangelischen Akademie Tutzing Ende der fünfziger Jahre zusammen.“ Claus-Jürgen Roepke, zwischen 1981 und 1991 Akademiedirektor, sollte mit seiner 1986 formulierten Prognose Recht behalten: 1996 kam das lang ersehnte neue „Evangelische Gesangbuch“ auf den Markt. Die Arbeit der Evangelischen Akademie Tutzing hat nicht nur Impulse für Politik und Gesellschaft, sondern auch Spiritualität und Kirche hervorgebracht. Roepke bezog sich mit seinen Ausführungen auf einen Wettbewerb für neue religiöse Lieder, den die Akademie im Herbst 1960 startete. Vorausgegangen waren Tagungen, die eine Beziehung zwischen Schlagern und Gesangbuchliedern herstellten. Das wirkte für manche auf den ersten Blick befremdlich. Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass die Texte und Melodien hier wie dort das Lebensgefühl der Menschen aufzunehmen verstanden. Das ist bis heute so. Ihre besondere Qualität besteht darin, Lebenslust und Ermutigung in eingängige Worte zu fassen – und so die Menschen zu faszinieren.
Die Initiative der Akademie ebnete einem Lied in besondere Weise den Weg – zunächst in die deutschen Hitlisten – später ins Evangelische Gesangbuch: „Danke für diesen guten Morgen“ (EG 334). Sein Komponist, der Theologe Martin Gotthard Schneider, ist am 3. Februar im Alter von 86 Jahren in Konstanz gestorben. Sein Lied, mit dem er den Wettbewerb der Akademie gewann, schaffte es 1963 als bisher einziges Kirchenlied sechs Wochen lang in die deutschen Hitlisten. Es wurde weltweit in mehr als 25 Sprachen übersetzt und für Kirchentage, Gemeindefeste und Jugendgottesdienste immer wieder neu arrangiert. Eine vom Botho-Lucas-Chor besungene Platte wurde über eine Million Mal verkauft. Schneider schuf zahlreiche weitere Kirchenlieder, darunter „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“. Schneider studierte evangelische Theologie und Kirchenmusik in Heidelberg, Tübingen und Basel. Er war ab 1970 Kantor in Freiburg und von 1973 bis 1995 Landeskantor der Evangelischen Landeskirche in Baden. Außerdem lehrte er an der Staatlichen Musikhochschule Freiburg (bis 1997), wo er 1980 zum Professor ernannt wurde. Über viereinhalb Jahrzehnte leitete er den von ihm 1961 gegründeten Freiburger Konzertchor der Heinrich-Schütz-Kantorei.
„Danke für diesen guten Morgen“ war nicht unumstritten. Neben Begeisterung hatte es auch Entrüstung ausgelöst, es sei zu schlicht. Doch genau das hat zu seinem Erfolg beigetragen. Wer den Text singt bzw. betet, erkennt alle Dimensionen des Lebens. Gut biblisch, nimmt es einen Gedanken der Psalmen auf, dass es viele Gründe gibt, dankbar zu sein – und dass der Mensch dies oft vergisst. Dieser Gedanke leuchtet auch modernen Zeitgenossen ein, die den Anlass zu danken vielleicht gar nicht gleich mit Gott in Verbindung bringen, sondern mit anderen Menschen, denen sie etwas zu verdanken haben. Es gibt einen Hochmut der Theologie, die meint, für Nicht-Theologen Unverständliches sei schon ein Ausdruck von Qualität. Dabei ist die Übersetzungsleistung von Schneider nicht hoch genug zu schätzen – an die Sprach- und Denkwelt von heute anzuknüpfen. In der Evangelischen Akademie Tutzing – und nicht nur hier – wird dieses Lied auch in Zukunft gerne gesungen.
Udo Hahn
Foto: Ingo Schneider