Was soll aus Europa werden?
Die europäische Identität und ihre Werte
„Europa ist die Bedingung unserer Zukunft“ lautete die Rede am 15. März 2019 von Prof. Dr. Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, Präsidentin und Mitgründerin der Humboldt-Viadrina Governance Platform gGmbH aus Berlin. Sie knüpfte den Begriff „Zukunft“ an eine Wertedebatte. Dabei gehe es nicht in erster Linie um Wohlstand, aber um eine soziale Grundsicherung. Besonders aber gehe es um Würde und Selbstbestimmung und um die Freiheit, frei von Not und Furcht leben können. Das Thema Frieden sei außerdem wieder mehr in den Vordergrund gerückt, so Schwan. Sie pflichtete der Auffassung des französischen Staatspräsidenten Macron bei (siehe oben, Manifest), nach der die europäischen Werte gegenwärtig bedroht seien. Damit die EU ihre Handlungsfähigkeit nach außen bewahren könne, benötige sie inneren Zusammenhalt. Europa müsse ein Gefühl der sozialen Absicherung vermitteln – das sei auch immer die Stärke der Sozialstaaten gewesen. Darüber hinaus gelte es den Wert der Gerechtigkeit als „Tugend des anderen Guts“ (Aristoteles) zu verteidigen. Demnach solle wohlwollende Großzügigkeit herrschen, die gerechte Verhältnisse herstellt.
Was Europas Zusammenhalt bestimme, entscheide sich entweder aus der Werte-Orientierung heraus oder aus langfristigem Interesse, so Schwan.
Schwan beklagte „massive soziale Diskrepanzen“ – nicht nur innerhalb Europas, sondern auch innerhalb Deutschlands. Sie berichtete aus der Lausitz, von Begegnungen mit Menschen, die von der Gesellschaft enttäuscht seien. Sowohl im Osten Deutschlands als auch bei sozial Schwachen habe sie Kränkungen, verletzte Selbstwertgefühle und Gefühle fehlender Anerkennung beobachtet. Damit der Zusammenhalt eines Landes – und auch innerhalb Europas – gewährleistet sei, müssten diese Ungleichheiten überwunden werden. Schwan stellte fest, dass Ungleichheiten zu „Keimen der Friedlosigkeit“ führten („Ungleichheit führt zu Aggression!“). Wirtschaftliche Ungleichheiten setzten sich fort in Gesellschaft, Kultur und Politik.
Die Systemfrage
„In Vielfalt geeint“ lautet der Wahlspruch der Europäischen Union. Doch wie lässt sich das in die Realität und – wichtiger noch – in die Zukunft übersetzen? Sollte man Nationalstaaten zugunsten einer Republik Europa auflösen, wie es etwa die Wissenschaftlerin Ulrike Guérot oder der Schriftsteller Robert Menasse in ihren Positionen fordern? Oder sollte man einer Idee folgen, die mehrmals schon unter dem Schlagwort „Vereinigte Staaten Europa“ – also ein föderales Gebilde propagieren (siehe Michael Roth)?
Es ist vor allem dieser Themenkomplex, der während der Tagung immer wieder aufzeigt, dass es vor allem strukturelle Herausforderungen sind, vor der die EU steht und die ihre Handlungsfähigkeit im politischen Alltag oft beeinträchtigt.
Prof. Dr. habil. Sabine Riedel, Professorin für Politikwissenschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Wissenschaftlerin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin hielt am 17. März 2019 während der Tagung einen Vortrag mit dem Titel „Wie viel Europa wagen? Wege und Irrwege“.
Die Politologin entwarf zunächst einen Blick zurück in die Entstehungsgeschichte der EU und verglich eine aktuelle Karte der EU mit einer Karte von 1919 (Material der Bundeszentrale für Politische Bildung). Nach 1919 seien Vasallen und Satellitenstaaten entstanden, nach dem zweiten Weltkrieg sei eine neue Europaordnung entstanden, daraufhin das Konzept der Europäischen Integration.
Wichtig war Riedel der Hinweis, dass die EU in einer Zeit der Systemkonkurrenz entstanden ist. Sie nennt Konzepte von Aristide Brion (Vorschlag der „Europäischen Föderation“, 1930, die im Kern allerdings eine Konföderation meinte), Winston Churchill („Die Vereinigten Staaten von Europa“, Idee von 1947, die Europa als Staatenbund sah, nicht als Staaten-Neugründung) oder auch die Idee von Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni 1941 im „Manifest von Ventotene“, die darin das Ideal eines europäischen Föderalismus entwarfen.
Riedel stellte eine wissenschaftliche Analyse vor, die einen die vier Szenarien Rückschritt, engere Zusammenarbeit, Vertiefung und Vergemeinschaftung miteinander ins Verhältnis setzt (siehe Bild). Sie sagte, dass die EU-Kommission derzeit eine weitere Vergemeinschaftung für nicht machbar hält. Es gebe jedoch zwischen allen Optionen die Handlungsmöglichkeit eines mittleren Wegs, der das, was im EU-Staatenverbund bereits vorliegt, in neue Kompetenzen einbinde.
Riedel wies darüber hinaus auf die unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründe der EU-Mitgliedsländer hin. In den südosteuropäischen Ländern etwa sei der Transformationsprozess anders verlaufen als gewünscht. Das Modell der sozialen Marktwirtschaft etwa sei so nicht angenommen worden. Sie erinnert an die Forderung von Vaclav Klaus, der eine „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ propagierte. Auch die Abgabe von Souveränitätsrechten gestalte sich in den osteuropäischen Ländern oft schwieriger als gedacht, was vor allem mit der jeweiligen Geschichte der Länder in Zusammenhang stünde. Weitere Probleme: Arbeitsmigration, Braindrain.
„Wie lässt sich das deutsche Mehrebenensystem von Kommunen, Ländern und Bund auf Europa erweitern?“ war eine Frage aus dem Publikum, die an Gesine Schwan gerichtet wurde. Man könne eine weitere Legitimationskette aufmachen so Schwan, indem man unabhängig von nationalen Strukturen die Bürgerpartizipation in den Kommunen fördere. Kommunen seien die „kleinste Einheit in Europa“.
Prof. Dr. Nikolaus Kowall, Professor im Fachbereich Wirtschafts- und Rechtswissenschaften an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, klärte in seinem Vortrag am 16. März 2019 über „Globalisierung und das Primat der Politik in Europa“ auf. Er ist der Auffassung, dass das Primat der Politik in der Geschichte der EU verloren gegangen sei. Die Globalisierung – vor allem die Globalisierung der Märkte – habe zu einer neuen Spieleanordnung geführt. Steuerdebatten etwa würden immer an Standortdebatten geknüpft.
Die Kritik an der Globalisierung habe leider oft eine „sozialpopulistische Schlagseite“, wie er etwa an der Haltung der österreichischen Partei FPÖ festmacht. Rechtspopulisten würden oft Globalisierung als Ursache für Migrationschübe und Deindustralisierung anführen. Die Regionen, die durch die Globalisierung stark getroffen wurden, würden zumeist auch rechtspopulistisches Wahlverhalten zeigen. Das habe auch etwas mit Europa zu tun! Kowall plädiert dafür, dass Primat der Politik auf europäischer Ebene wiederherzustellen. Er möchte einen „politischen Europäisierungschub“. Die EU solle als Vehikel dienen, um den gesamten Handel nachzuregulieren.
In der untenstehenden Bildergalerie haben wir verschiedene Momente der Tagung eingefangen.