Bedroht die Digitalisierung die Freiheit?
Die Digitalisierung schreitet in allen Lebensbereichen unaufhaltsam voran. Großkonzerne, Kleinunternehmen, Kaufhäuser, Banken, Automobilhersteller, die Post, die Netzbetreiber, der Staat, die Nachrichtendienste und viele andere erfassen täglich persönliche Daten von jedem von uns. Damit wird ein reger weltweiter Handel betrieben. Die Konsequenzen sind nur schwer abzumessen. Big Data ist zum Geschäftsmodell der Zukunft geworden.
Für die Wirtschaft bietet Big Data riesiges Wachstumspotential, Einsparmöglichkeiten beim Personal, Wettbewerbsvorteile auf dem Markt und damit Gewinnmaximierung. Auch der Staat kann durch die Digitalisierung profitieren, um sein Leistungsangebot flexibler anzubieten. In der Kriminalistik und Terrorismusbekämpfung sind große Datenmengen von unschätzbarem Vorteil. Gleichzeitig sind seit den Enthüllungen von Edward Snowden multinationale Datenkraken und staatliche Nachrichtendienste heutzutage stark umstritten. Für den Bürger ist Big Data zur Gratwanderung zwischen komfortablen Lösungen seiner Alltagsbewältigung einerseits und der Sorge um persönliche Daten und den Verlust der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung andererseits geworden.
Wie stark dürfen Staat und Wirtschaft in die Privatsphäre der Bürger eingreifen? Welche Grenzen in der Datennutzung müssen und wollen wir setzen, um unsere Bürgerrechte in Zeiten der Digitalisierung zu schützen? Bedroht die Digitalisierung gar die Freiheit? Das von Akademiedirektor Udo Hahn moderierte „Sommergespräch 2016“ ging diesen Fragen nach. Als Gäste hatte Hahn die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und den Chefredakteur der internationalen Konferenz- und Innovationsplattform Digital Life Design (DLD), Dominik Wichmann, zu sich auf das Podium eingeladen.
Die Chancen
Für Dominik Wichmann steht fest, dass die neue Welt viel Positives bringen wird. Da sei zum Beispiel die Künstliche Intelligenz (KI), an der intensiv geforscht werde und die eine immer größer werden Rolle spielen würde. Vorrangiges Ziel wird es sein, den Maschinen „Leben einzuhauchen“, so Wichmann. Groß war der Jubel der Programmierer, als vor wenigen Wochen die Google-Software Alpha Go den südkoreanischen Spitzenspieler Lee Sedol beim Brettspiel Go besiegt hatte. Der Sieg der Software gegen einen der weltbesten Go-Spieler wurde als ein großer Schritt in der Entwicklung selbstlernender Maschinen gewertet, als Meilenstein der künstlichen Intelligenz (KI).
Auch Social Entrepreneurship, also soziales Unternehmertum, das sich innovativ, pragmatisch und langfristig für einen wesentlichen, positiven Wandel einer Gesellschaft einsetzen will, befindet sich auf dem Vormarsch. So wird zum Beispiel in Canada versucht, „Jugendliche in Brot und Arbeit zu bringen und damit die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen“, erklärt der Journalist. Generell sei die Digitalisierung „kein Wert an sich, sie tritt zunehmend in alle unsere Lebensbereiche und sie ist viel zu komplex, um sagen zu können, sie sei gut oder schlecht“, meinte Wichmann.
Ein anderes Beispiel ist die Humanmedizin. „Die Digitalisierung hat die Medizin enorm vorangebracht. Medizinische Erkenntnisse aus einem Riesenberg von Daten generieren zu können, hat zum Beispiel die Onkologie weit nach vorne gebracht“, legte Wichmann dem Publikum dar. Das Problem läge allerdings darin, wie man sich zukünftig versichern wolle, wenn die Versicherung alle persönlichen Daten des Patienten bereits kennt.
Die Risiken
Bei Big Data werden riesige Datenmengen gesammelt und ausgewertet. Algorithmen präsentieren auf dieser Grundlage dann Ergebnisse, die für den Staat und die Wirtschaft von großem Interesse sind, stellte Udo Hahn fest. Darin lägen die Risiken der neuen Technologie, erklärte Dominik Wichmann. Es gebe heute eine große Tracking-Industrie, die unser Surf-Verhalten analysiere und daraus Prognosen unseres Verhaltens ableite. In Deutschland existieren derzeit etwa 100 Tracking-Unternehmen, 10 davon seien bekannt, die anderen säßen in Usbekistan oder anderswo auf der Welt. Sie alle sammeln unermüdlich unsere Daten: Name, Adresse, Beruf, Wohnort, Religionszugehörigkeit, Familienstatus. Mit etwas Geschick kennen sie auch unsere Bank- und unsere Kontoverbindung.
Problematisch sei der Handel mit diesen Daten und deren Verkauf an diese Unternehmen, fügte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hinzu. Hier muss der Gesetzgeber zukünftig mehr in Aktion treten, denn die großen Kaufhäuser, die Post, auch die Gemeinden würden einen schwungvollen Handel mit dem Verkauf von Daten betreiben.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Viele der Datenspuren, die jeder von uns täglich im weltweiten Netz hinterlässt, musste Google aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 13. Mai 2014 löschen, und zwar immer dann, wenn Persönlichkeitsrechte Einzelner tangiert waren. „Der EuGH stärkt somit das schon lange von den Verbraucherzentralen geforderte ‚Recht auf Vergessenwerden‘, das Recht der Verbraucher auf Privatsphäre und auf Selbstbestimmtheit“, erklärte Leutheusser-Schnarrenberger. In Deutschland gebe es das ‚Recht auf informationelle Selbstbestimmung‘. Danach hat jeder Mensch das Recht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen, erklärte die frühere Bundesjustizministerin. Sie ist seit 2014 Mitglied im achtköpfigen Beirat von Google und erarbeitet dort einen ‚Lösch-Leitfaden‘, den Google umsetzen soll. Desweiteren – so Leutheusser-Schnarrenberger – wird es 2018 die Datenschutz-Grundverordnung geben, die ein Recht auf Privatsphäre nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber nicht-öffentlichen Stellen wie etwa Unternehmen aus der Wirtschaft, regeln wird.
Disruptive Geschäftsmodelle
Durch die zunehmende Digitalisierung seien auch disruptive Geschäftsmodelle entstanden, erklärte Akademiedirektor Hahn. Produkte oder Dienstleistungen würden entwickelt, die zu Beginn einen kleineren Teil der Kunden ansprechen. Disruptiv wird es, wenn das Angebot das Kapital bekommt und einen Markt so dominiert, dass etablierte Unternehmen und ihre Produkte verdrängt werden. Das private Vermieten von Zimmern über „Airbnb“ oder der Online-Vermittlungsdienst „Uber“, der Fahrgäste an Mietwagen mit Fahrer vermittelt, seien solche Beispiele. Dem Hotelgewerbe und den Taxiunternehmern kann das gar nicht gefallen.
„Mit diesen Geschäftsmodellen wird der Wettbewerb in massiver Weise beeinflusst“, merkte Wichmann an. Aber solche Geschäftsmodelle zu verbieten, sei auch keine Lösung. „Den Geist wieder in die Flasche zu drücken, wird nicht gehen.“ Die ehemalige Bundesjustizministerin stellte fest, dass wir in Deutschland Regeln besäßen, wo Airbnb nicht genutzt werden darf. Und Uber – so Leutheusser-Schnarrenberger – fordere die Taxiunternehmen geradezu heraus. Fahrgäste zum Nulltarif ohne Versicherung zu befördern, dass sei für Taxis ruinös. Und wenn Miet- oder Eigentumswohnungen kommerziell genutzt würden, dann sei die Politik gefragt, was sie tun will.
Konsequenzen der Digitalisierung
„Maschinen sollen Flugzeuge besser fliegen können als Piloten. Bestimmte Berufe werden aussterben. Hält unsere Gesellschaft dann noch zusammen?“, fragte Udo Hahn seine Gäste. Die Arbeitswelten werden sich massiv verändern, erklärte Wichmann. Viele Jobs werden verschwinden, aber gleichzeitig werden neue Jobs entstehen. Wir werden den Begriff der Arbeit neu definieren müssen und wir müssen überlegen, ob wir dann ein bedingungsloses Grundeinkommen brauchen werden, wie von der Schweiz unlängst vorgeschlagen. Auch muss überlegt werden, wie wir zukünftig Bildung definieren wollen?
Darüber hinaus benötigen wir ebenfalls ein neues Kartellrecht, denn als das weltgrößte Online-Netzwerk Facebook vor zwei Jahren seinen Rivalen WhatsApp gekauft hatte, wurde das von keiner Kartellbehörde bemängelt. „Hier hat die Politik versagt“, so Wichmann. Ergänzend fügte Leutheusser-Schnarrenberger an, dass wir ebenfalls ein neues Haftungsrecht schaffen müssten, denn wenn ein selbstfahrendes Auto einen Unfall verursacht, muss geklärt sein, wer haftet?
Die Herausforderungen an Staat und Gesellschaft, die mit der Digitalisierung einhergehen, liegen also klar auf der Hand. Bleibt die Frage, ob Google, Facebook und Co. auch in der Lage wären aufgrund ihres weltweiten Einflusses und ihres ungeheuren Kapitals, eine Regierung abzulösen. Für Leutheusser-Schnarrenberger und für Wichmann steht fest, dass das Prinzip der Volkssouveränität das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt bestimmt. „Es muss alles getan werden, damit die Politik weiterhin die Entscheidungen trifft“, forderte die ehemalige Bundesjustizministerin. Und Wichmann könnte sich nach amerikanischem Muster ein level-playing-field vorstellen, eine faire Situation also, in der jeder die gleiche Chance hat, voranzukommen und erfolgreich zu sein.
Mitgestaltung der Zivilgesellschaft gefordert
Vor diesem Hintergrund – da waren sich die Podiumsteilnehmer und das Publikum einig – ist es notwendig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich an der Debatte um die Digitalisierung beteiligen müssen. Insbesondere kommt den Kirchen die Aufgabe zu, die Entwicklung mitzugestalten. „Wir brauchen eine ethische Begleitung“, bemerkte Dominik Wichmann. Und die Juristin Leutheusser-Schnarrenberger ergänzte, dass die Kirchen eine Wertedebatte führen müssten. Für sie ist wichtig, dass die Freiheit nicht bedroht wird und die Demokratie keinen Schaden nimmt, denn „wenn wir keinen Rahmen schaffen, innerhalb dessen sich die Digitalisierung entfalten soll, dann kann das die Privatsphäre, die Persönlichkeitsrechte und auch die Freiheit des Menschen gefährden.“ Bleibt zu guter Letzt der Zuruf eines Zuhörers: „Der Schutz der Privatsphäre ist keine Nebensache – wir brauchen mehr Datenhygiene.“
(Axel Schwanebeck)
Das Sommergespräch 2016 wurde von ARD-alpha aufgezeichnet. Der TV-Beitrag wird am 22. August 2016, um 22:30 Uhr, im Programm “denkzeit” gesendet.
“Die Digitalisierung wird viel Positives bringen, z.B. bei der Künstlichen Intelligent (KI), in der Medizin oder beim Social Entrepreneurship”, erklärte Dominik Wichmann, Chefredakteur bei Digital Life Design (DLD).
(Foto: Schwanebeck)
Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger warnte: “Wenn wir keinen Rahmen schaffen, innerhalb dessen sich die Digitalisierung entfalten soll, dann kann das die Privatsphäre, die Persönlichkeitsrechte und auch die Freiheit des Menschen gefährden.“
(Foto: Schwanebeck)