“Arbeit ist mehr als Broterwerb”

Klimawandel, Alterspyramide, Bevölkerungswachstum, Digitalisierung: Die gefürchteten Veränderungen sind längst real und fordern massives Umdenken und Umsetzung. “Wir brauchen ein Modernisierungsjahrzehnt”, forderte der Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, Kai Whittaker. Gemeinsam mit Judith Wiese, Arbeitsdirektorin der Siemens AG, diskutierte er bei der 10. Tutzinger Rede über die Zukunft der Arbeit. Der Abend wurde moderiert von Dr. Wolfgang Thost, Präsident des Rotary Clubs Tutzing, und Akademiedirektor Udo Hahn.

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März 2020: Die Pandemie reißt die Menschen quasi über Nacht aus ihren Gewohnheiten in allen Lebensbereichen. Die Arbeitswelt verändert sich noch rasanter als zuvor. Führungskräfte müssen anders führen, ihren Mitarbeitern im Homeoffice vertrauen, sich neuen Formaten öffnen. Innovation ist plötzlich überlebenswichtig. Was sind die Voraussetzungen für das Überleben in der Arbeitswelt von morgen? Werden die Maschinen die Menschen verschlucken? Kai Whittaker und Judith Wiese sehen das nicht so. Tragende Säulen für die anstehenden Veränderungen seien, so Whittaker, einerseits Sicherheit, gleichzeitig aber auch Flexibilität für innovative Projekte. Die Siemens-Personalchefin und Diversitätsexpertin Judith Wiese skizzierte, wie ein entwicklungsförderndes Umfeld die Arbeit von morgen und übermorgen fördern und sichern hilft.

Das A und O: eine lernfreudige Unternehmenskultur

“Das Thema ‘Zukunft der Arbeit’ muss uns alle beschäftigen”, ermunterte Judith Wiese in ihrem Impuls-Vortrag. Arbeit sei mehr als Existenzsicherung. Sie verleihe den Mitarbeitenden Sinn und wirke identitätsstützend. Sie rief Arbeitnehmer und Arbeitgeberinnen auf, die Zukunft der Arbeit proaktiv mitzugestalten. Arbeitsplätze in der Zukunft zu sichern, heiße für Arbeitgeber nicht, die berühmte Glasglocke über wirtschaftstragende Branchen zu stülpen. “Arbeit der Zukunft” bedeute vielmehr, mit innovativen Technologien die Industrie, Infrastruktur, Mobilität und Gesundheit zu fördern, und dabei die Nachhaltigkeit, sowie Resilienz und Relevanz der Mitarbeiter nicht aus dem Auge zu verlieren.

Die Siemens-Managerin zeichnete ein geradezu traumhaftes Bild vom Arbeitspatz der Zukunft: Unternehmen entwickeln sich zu lernenden Organisationen, mit Führungskräften, die eher als Coaches denn als “Kontrolleure” agieren. Als “Moderatoren” schaffen sie ein unterstützendes, lernförderndes Umfeld, um ihre Mitarbeiter für Weiterbildung zu motivieren. Sie lassen ihnen Freiräume, um Neues auszuprobieren. Nichtwissen wird nicht mehr als Versagen gedeutet, sondern als Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen. Die Mitarbeiter werden angesichts wachsender Unvorhersehbarkeit in ihrer Resilienz gestärkt. Immerhin würden zwei Drittel der heute Studierenden einmal in Jobs arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Zukunft müssen sich aber auch für lebenslanges Lernen und stetige Veränderung im Beruf öffnen. Eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit der Zukunft sei, so Wiese, vor allem die Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln.

Den Sozialstaat in das 21. Jahrhundert holen

Am Ende dieses Jahrzehnts fallen als Folge der demografischen Entwicklung fünf bis sieben Millionen Erwerbsfähige weg. Was bedeutet das für die sozialen Sicherungssysteme? Kai Whittaker skizzierte in seinem Impulsvortrag einige Rahmenbedingungen für die Arbeit der Zukunft. Dazu gehöre eine Reform des Sozialstaats, um schneller und unbürokratischer helfen zu können. Das Arbeitszeitgesetz sei ein “Hemmschuh” und müsse aus dem Geist der 1970er Jahre in das 21. Jahrhundert geholt werden. Auch brauche Deutschland einen Klimainvestitionsplan, der den Unternehmen für zehn Jahre einen sicheren Handlungsspielraum gewährleiste. Eine digitale Weiterbildungsplattform könne – Whittaker nannte es plakativ eine Art “Netflix der Arbeit” – als offenes Forum für Wirtschaft und Arbeitsmarkt dienen.

In der Weiterentwicklung der Arbeit gehe es nicht darum, “aus einem Hausmeister einen Digitalwissenschaftler zu machen”. Vielmehr sei die Aufgabe von Unternehmen und Staat, alle Arbeitenden entlang der Wertschöpfungskette auf die nächsthöhere Stufe zu bekommen, präzisierte der Abgeordnete.

Schule: Lernen lernen ist wichtiger als reine Wissensvermittlung

Was geben wir unseren Jüngsten mit auf den Weg in ihren zukünftigen Arbeitsplatz, den es womöglich heute noch gar nicht gibt? Die Modernisierung der Arbeit beginnt in der Schule. Dabei geht es um mehr als die Anschaffung von Computern. Auch die Lehrpläne müssen entstaubt werden. Die “Halbwertzeit des Wissens” verkürzt sich. Statt reinen Fachwissens sind in der Zukunft soziale, moderierende und lösungsorientierte Fähigkeiten gefragt. In der Diskussion, die sich an die Vorträge anschloss, einigten sich die Gäste des Abends auf die Formel: Lernstrategien sind wichtiger als reines Wissen.

Diskutiert wurde auch über die Generationen X, Y und Z.  Steckt in der Betonung der Work-Life-Balance Konfliktpotenzial? Diese Befürchtung teilte Judith Wiese nicht. Knowledge Worker wollen prinzipiell – und das gilt generationenübergreifend – möglichst autonom arbeiten, ihr Wissen einbringen, sich mit anderen austauschen und “wach bleiben”. Unter dem Stichwort “purpose” möchten jüngere Generationen wissen, wo der Weg hinführt. Unternehmen, die dazu beitragen, die großen Probleme der Welt zu lösen, seien hier besonders gefragt.

Grundeinkommen ja, aber nicht für alle

Aus dem Publikum kamen viele Fragen nach dem bedingungslosen Grundeinkommen. Ist es realistisch, jedem Arbeitenden 1.000 Euro pro Monat für Nichtstun auszuzahlen? Aus Whittakers Sicht ist das zum einen nicht finanzierbar und zum anderen unfair, denn jeder bekomme es, aber nicht jeder brauche es. Der Abgeordnete plädierte daher eher für ein “bedingtes Grundeinkommen”: Je geringer der Verdienst, desto mehr Unterstützung vom Staat.

Ein Jahrhundert des Mega-Wachstums

Wann ist die Wachstumsära vorbei? Müssen wir jetzt den Gürtel enger schnallen, damit wir weiterhin mit einer Erde auskommen? Kai Whittaker schüttelte den Kopf und stellte die Gegenthese auf: Wenn wir mit einem Drittel der Ressourcen von heute den Wohlstand erhalten wollen, sei der Output größer als der Input. Das sei die klassische Formel für Wachstum. Die Tutzinger Rede endete mit der provokanten These: Eigentlich müsse das “Jahrhundert des Mega-Wachstums” vor uns liegen, und zwar auf der Grundlage von nachwachsenden Rohstoffen und recycelbaren Materialien.

Valerie Neher

→ Den Video-Mitschnitt der 10. Tutzinger Rede können Sie auf unserem YouTube-Kanal abrufen.

Bild: Udo Hahn, Dr. Wolfgang Thost, Kai Whittaker MdB und Judith Wiese während der Online-Gesprächsveranstaltung “Die Zukunft der Arbeit” am 1. März 2021 (Foto: Screenshot / eat archiv)

 

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