Tagungsbericht: Antisemitismus bekämpfen
Antisemitische Einstellungen und Handlungen nehmen in der Gesellschaft zu. Wie ihnen wirksam begegnet werden kann, darum ging es bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit dem Bayerischen Bündnis für Toleranz. An ihm nahmen Vertreterinnen und Vertreter der Polizei und zivilgesellschaftlicher Initiativen teil.
(Bildergalerie am Ende des Textes)
Eine deutliche Mehrheit in Deutschland sieht im Antisemitismus ein Problem für die Gesellschaft. Dennoch sind antijüdische Vorurteile weitverbreitet. Und auch die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland wächst. Zugenommen hat dabei insbesondere die offen gezeigte Judenfeindlichkeit, vor allem der verbale Antisemitismus. Die Zahl der Äußerungen, in denen Juden stigmatisiert, diskriminiert, bedroht, beschimpft und belehrt werden, hat ein dramatisches Ausmaß angenommen. Ebenfalls augenfälliger geworden sind physische Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden, Anschläge auf Synagogen, Schändungen jüdischer Friedhöfe, terroristische Übergriffe sowie Diffamierungs- und Boykott-Kampagnen gegen den jüdischen Staat Israel. In den jüdischen Gemeinden wachsen deshalb Sorge und Furcht. Politik, Justiz und Zivilgesellschaft sind gefordert, diesen Tendenzen wirksam entgegenzutreten. Mit diesem Befund eröffneten Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, und Martin Becher, Geschäftsführer des Bayerischen Bündnisses für Toleranz, die Tagung vom 8.-9. Dezember 2022. (Programm hier abrufen)
Oberstaatsanwalt Andreas Franck hob in seinem Vortrag über “Antisemitische Straftaten – Antworten der Justiz” hervor, dass die Verfolgung von antisemitischen Straftaten oder der Hasskriminalität grundsätzlich im öffentlichen Interesse liege und dabei keine Verweisung auf den Privatklageweg erfolge. Ihm gehe es um konsequente Strafverfolgung. Er hat seit 1. Oktober 2021 die neu geschaffene Position des Zentralen Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz inne. Franck ist bei der Bayerischen Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) bei der Generalstaatsanwaltschaft München tätig und kann bayernweit eigene Ermittlungsverfahren führen. Der Jurist ist Deutschlands erster landesweiter Spezialstaatsanwalt für jüdischfeindliche Straftaten. Er hat in einem Jahr in Fällen von bayernweiter Relevanz 65 Ermittlungen selbst eingeleitet, davon in 24 Fällen gegen unbekannte Personen. Dazu kommen 36 allgemeine Prüfvorgänge. Zu seinen Fällen gehören beispielsweise Volksverhetzungen oder antisemitische Beleidigungen gegenüber Polizisten. Durch die neu geschaffene Anlaufstelle wolle man jüdische Menschen ermutigen, Anzeige zu erstatten. Dabei sei auch ein “kleiner Zeugenschutz” vorgesehen. Die Informationen hierzu seien in sieben Sprachen, auch auf Hebräisch, abrufbar.
Oberstaatsanwalt Franck bekräftigte seine Haltung mit den Worten: “Wir meinen es ernst!” Er erläuterte die Maßnahmen der Generalstaatsanwaltschaft an mehreren Beispielen. So wurde Anklage erhoben wegen Billigung von Straftaten aufgrund eines Facebook-Posts am 08.04.2022 in einem Chat zu einem Anschlag in Israel: “Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.”
Freie Kultur – der Sauerstoff einer Gemeinschaft
Judith Epstein, Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition in München und Bayern, referierte zum Thema “Die Sprache der Kultur verbindet”. Sie sieht ihre Aufgabe darin, “die Vielfalt und den Reichtum unserer jüdischen Kultur und Tradition in den öffentlichen Raum zu bringen”, wie es etwa in den Jüdischen Kulturtagen geschieht.
Freie Kultur sei der Sauerstoff einer Gemeinschaft, das Korrektiv einer Demokratie, Kultur sei keine Schönwetterveranstaltung, sondern sie trage Gesellschaften auch durch stürmische Zeiten, so Epstein. Auch verhandle Kultur täglich den Gesellschaftsvertrag mit. Sie müsse daher eine Plattform für die Stimmen der Vielfalt und Reflexion sein und Einordnungen durch Offenheit des kulturellen Raumes ermöglichen. Kultur hat laut Epstein auf die Aufgabe, sowohl eine Brücke zu den anderen zu sein, als auch Weg zu Nachbarn und Fremden – ein bedingungsloser Freiraum für alle. Dass das ein erhellender, manchmal schmerzhafter Akt ist, haben auch die Debatten der letzten Monate immer wieder gezeigt. Hieran scheiterte letztendlich die Documenta, so Epstein, die sich den berechtigten Vorwurf gefallen lassen musste, Antisemitismus und BDS-Postulationen Raum zu geben.
Der politische Auftrag der Kultur
Diese Realität gilt es zu verstehen in einer Gesellschaft, die immer noch mit Rassismus und Antisemitismus ringt, mitunter auch deshalb, weil fast keine Kultur es geschafft hat, Ausgrenzung als zentrales Element ihrer Wirkung sozusagen als DNA zu formulieren, die jede Generation bildlich gesprochen mit der Muttermilch aufsaugt. Mehr denn je sind wir alle herausgefordert – nicht nur durch neue Problematiken, sondern auch durch Dinge, die nie gelöst wurden. An oberster Stelle: Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierungen und Antisemitismus. All dem etwas entgegenzusetzen, ist die Aufgabe, die die Kultur noch zu lösen hat.
Die jüdische Kultur in Deutschland lebt, bekräftigte Judith Epstein. Sie ist heute stärker als jemals zuvor. Jüdische Museen, Kultur- oder Filmfestivals haben sich flächendeckend in Deutschland etabliert und dennoch bleiben viele Herausforderungen. Der wieder erstarkende Antisemitismus ist eine große und bedrohliche Wunde, welche uns alle und unsere Werte gefährdet. Hier hat Kultur einen politischen Auftrag: Gerade in Zeiten des wieder erstarkenden Antisemitismus in unserem Land muss Kultur ein klares Statement setzen und Position beziehen. Unsere Antwort auf Ausgrenzung und Anfeindungen, seien sie verbal, politisch oder durch Gewalt, ist die Kultur des Austauschs. Kultur erfüllt diese Verpflichtung und dient als unverzichtbare Brücke zueinander.
In diesem Sinne versteht Judith Epstein auch ihre Arbeit als Vorsitzende der Jüdischen Kulturtage München: als offener Raum der Begegnung, als Plattform gegen das Nichtverstehen der anderen, als Überwindung der Begrenzung durch Sprache. Kulturschaffende müssten Abgrenzungen aufbrechen, Plattformen und Programme schaffen, die die Anderen stärken und nicht Teil eines Kampfes für das vermeintliche “uns” wird.
Dr. Annette Seidel-Arpacı, Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS), sprach über “Dimensionen des Antisemitismus nach der Shoah” und stellte zunächst die Arbeit von RIAS vor.
Vergleich 2020 / 2021: Doppelt so viele antisemitische Vorfälle in Bayern
Auftrag sei die bayernweite Dokumentation antisemitischer Vorfälle: sowohl strafbare als auch nichtstrafbare antisemitische Vorfälle, unabhängig vom Hintergrund des Vorfalls, vertraulich, mit dem Betroffenenschutz im Fokus. Dies geschehe auf folgenden Grundlagen: Arbeitsdefinitionen Antisemitismus, Leugnung und Verharmlosung der Shoah der IHRA.
Zudem schickte sie ihren Ausführungen noch die Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus voraus. Im Rassismus würden die von ihm Betroffenen abgewertet, als primitiv, triebgesteuert, naturverhaftet usw. konstruiert und der eigenen, vermeintlich überlegenen Gruppe gegenübergestellt. In der rassistischen Konstruktion können sie ausgenutzt, ausgebeutet und beherrscht werden. Auch im Antisemitismus erfahren “die Juden” eine kollektive Abwertung, zeitgleich aber auch eine Überhöhung: Sie gelten sie als extrem mächtige “Verschwörer” und “Strippenzieher” im Hintergrund. Deshalb ist eine Beherrschung und Kontrolle “der Juden” nicht wie bei den Objekten des Rassismus möglich. Das antisemitische Weltbild von “den Juden” als absolut Böses läuft auf die Vernichtung realer Juden und Jüdinnen als vermeintliche Selbstverteidigung hinaus.
Weiter blickte Dr. Seidel-Arpacı auf die Arbeit der mehr als drei Jahre bestehenden Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern zurück. Demnach steige die Zahl der Vorfälle, die gemeldet würden. Für das Jahr 2021 waren dies mit 447 Vorfällen nahezu doppelt so viele Vorfälle wie im Jahr 2020 und fast dreimal so viele wie 2019.
“Nahezu reflexartiges Ausleben von Ressentiments”
Für Seidel-Arpacı zeigt die stetige Zunahme zum einen, dass RIAS in allen Gegenden Bayerns bekannter wird und dass sich mehr Menschen mit ihren Erfahrungen und Beobachtungen an RIAS wenden. Zum anderen aber sage der Anstieg auch etwas über das enorme Dunkelfeld an Vorfällen aus, dessen Erhellung sich RIAS zur Aufgabe gemacht hat. Insbesondere die einzelnen antisemitischen Vorfälle im Alltag, deren “Normalität” und das nahezu reflexartige Ausleben von Ressentiments auf der Straße, im Wohnumfeld, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Arbeitsumfeld und sogar im Bekanntenkreis, lassen Seidel-Arpacı zur Folge den Schluss zu, dass es eine große Anzahl an ähnlichen Vorfällen gibt, die bei RIAS nicht bekannt werden. Es ist diese alltägliche, scheinbare “Normalität” als gesellschaftlicher Zustand, den Seidel-Arpacı als “unerträglich” beschreibt.
Es sind die Anfeindungen und Bedrohungen, wie auch “gar nicht so gemeintes” unsäglich-alltäglich Dahingesagtes, die Jüdinnen und Juden auch in Bayern erleben müssen – und die schlichtweg nicht hinnehmbar sind. RIAS Bayern sieht sich an der Seite aller, denen Antisemitismus entgegenschlägt und als parteiische Anlaufstelle. Neben der Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit, der Unterstützung bei Beratungsbedarf oder beim Wunsch nach Anzeigenstellung strebt RIAS auch eine enge Zusammenarbeit und weitere Vernetzung mit allen gesellschaftlichen Kräften an, die Antisemitismus in all seinen Ausdrucksformen entgegentreten wollen. – Unabhängig davon, ob er in seiner rechten Ausprägung daherkommt oder in “israelkritischer”, das heißt mit einem vermeintlich progressiven Anstrich.
Unter der Überschrift “Antisemitismus – eine Herausforderung für staatliches Handeln” stand der Vortrag des Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Staatsminister a.D. Dr. Ludwig Spaenle. Er arbeitet in enger Abstimmung mit Ansprechpartnern bei allen 22 bayerischen Staatsanwaltschaften. Eine Abfrage seines Büros hat ergeben: Insgesamt wurden nach Mitteilung der 22 bayerischen Staatsanwaltschaften im Zeitraum 1. Oktober 2021 bis 30. September 2022 657 Verfahren eingeleitet, davon 89 Verfahren gegen unbekannte Personen. Vor diesem Hintergrund würdigte Spaenle, dass die bayerische Justiz mit einem Bündel an Maßnahmen gegen antisemitische Straftaten vorgeht – und frühzeitig schlagkräftige Ermittlungsstrukturen geschaffen hat.
So wurden 2018 drei Antisemitismus-Beauftragte der Bayerischen Justiz bei den drei Generalstaatsanwaltschaften München, Nürnberg und Bamberg eingesetzt. Ende des Jahres 2021 wurden bei allen 22 bayerischen Staatsanwaltschaften Ansprechpartner für den Bereich Antisemitismus etabliert.
Darüber hinaus wurde im Januar 2020 wurde Deutschlands erster Hate-Speech-Beauftragter vom bayerischen Justizminister bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) bei der Generalstaatsanwaltschat München zentral für ganz Bayern bestellt. Parallel dazu wurden Sonderdezernate für die Bekämpfung von Hate Speech bei allen 22 bayerischen Staatsanwaltschaften eingerichtet.
Antisemitische Motive leichter entschlüsseln
Damit antisemitische Motive nicht im Dunkeln bleiben, haben die drei bereits bestehenden Antisemitismus-Beauftragten der Generalstaatsanwaltschaften einen Leitfaden für Staatsanwälte entwickelt. Mit dem auch international beachteten Leitfaden können antisemitische Motive leichter entschlüsselt werden (z.B. anhand von Nazi-Jahrestagen oder Codes). Bayern hat sich auch rechtspolitisch in Berlin eingesetzt: Eine judenfeindliche Motivation wird im Gesetz ausdrücklich als strafschärfendes Tatmerkmal genannt. Die Bundesregierung hat den Vorschlag aus dem Freistaat im Jahr 2020 aufgegriffen (§ 46 Absatz 2 Strafgesetzbuch).
In seinem Grußwort betonte der Bayerische Landespolizeipräsident Michael Schwald, dass Politik, Justiz und Zivilgesellschaft gefordert sind, antisemitischen Tendenzen wirksam entgegenzutreten. Die Bayerische Polizei sei sich bewusst, dass vor allem auch sie hier gefordert sei. Die betreffe die Sensibilisierung hinsichtlich antisemitischer Strömungen als auch die Bekämpfung der in den letzten Jahren stetig zunehmenden antisemitischen Straftaten.
Schwald ging auf das Buch des Historikers Peter Longerich “Antisemitismus – Eine deutsche Geschichte von der Aufklärung bis heute” ein. Er zitierte aus dem Prolog: “Die Debatte machte erneut deutlich, dass der Hass auf die Juden eine zentrale Rolle im rechtsextremen Weltbild einnimmt, das im Übrigen aus einem Konglomerat von Fremdenfeindlichkeit, Antiislamismus, militantem Antifeminismus, Antiisraelismus und Verschwörungstheorien besteht, letztlich aber ‘die Juden’ für die großen Übel dieser Welt verantwortlich macht. Über den Rechtsextremismus hinaus […] ist der Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Abstufungen in der Gesellschaft weit verbreitet. Diese Popularität der Judenfeindschaft gibt nicht nur dem Gewalttäter von Halle das Gefühl, seine Tat werde insgeheim von vielen gebilligt, sondern hat zur Folge, dass alle bisherigen Anstrengungen zur Bekämpfung des Antisemitismus keineswegs dazu geführt haben, ihn zu einem bloßen Randphänomen zu reduzieren. Er ist vielmehr mitten unter uns und anscheinend unausrottbar.”
Die verschiedenen “Erscheinungsformen” und “Abstufungen” des Antisemitismus, so Schwald machten es – mitunter auch für die Strafverfolgungsbehörden – in Einzelfällen schwer, hinter einer scheinbar harmlosen bürgerlichen Maske die antisemitische Fratze zu erkennen. Am wohlsten, sozusagen “zu Hause”, fühle sich der Antisemitismus nach wie vor unter dem Dach von Rechtsextremisten.
Antisemitismus erkennen können – um ihn zu bekämpfen
Drastisch zeigte die Corona-Pandemie das antisemitische Potenzial im rechtsextremistischen Spektrum. Wer hat die Bilder, mit denen die Shoah verharmlost werden sollte nicht im Kopf: der Virologe Christian Drosten als KZ-Arzt Mengele, Impfgegner als die “neuen, von staatlicher Macht verfolgten Juden” oder ein gelber Stern mit der Aufschrift “ungeimpft”.
Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität stoße die Polizei aber auch auf der anderen Seite, im Linksextremismus, auf antisemitische Gesinnungen, die sich hier häufig unter dem Deckmantel der “Israelkritik” oder des “Antizionismus” verstecken.
Sehr offen hingegen tritt der Antisemitismus wiederum im Islamismus zu Tage. Schwald erinnerte an die Bilder von Al-Quds-Märschen in Berlin, bei denen regelmäßig zur Vernichtung Israels aufgerufen wird, oder Israel-Flaggen brennen. Auch im auslandsbezogenen Extremismus, wie zum Beispiel in der rechtsextremen “Ülkücü-Bewegung”, deren Anhänger als “Graue Wölfe” bezeichnet werden, herrschen antisemitische Feindbilder vor.
Im Antisemitismus sieht Schwald einen Angriff auf unsere Grundüberzeugungen und Werte, eine Gefahr für unsere Demokratie. Antisemitische Straftaten zu bekämpfen heißt für ihn auch: Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen. Es sei ihm ein besonderes Anliegen, dass Polizistinnen und Polizisten neben all den rechtlichen Kenntnissen über eine fundierte politische Bildung verfügen und auch unterschwellige antisemitische Muster und Strömungen wahrnehmen können. Er ist überzeugt: Um Antisemitismus bekämpfen zu können, muss man ihn zunächst erkennen!
Gespür und die Resilienz für Verschwörungsmythen entwickeln
Darüber hinaus ist es dem Bayerischen Landespolizeipräsidenten wichtig, das Wissen über die Vielfalt des jüdischen Lebens, Alltags und der jüdischen Kultur bei den angehenden Polizeibeamtinnen und -beamten weiter auszubauen. Neben regelmäßigen Vorträgen und Besuchen durch Repräsentanten jüdischer Gemeinden werden in der Ausbildung auch gemeinsame Projekttage organisiert, wie etwa der Besuch der örtlichen Synagoge, Exkursionen zu bayerischen KZ-Gedenkstätten oder zu NS-Dokumentationszentren. Auch werde überlegt, ob beispielweise Rabbiner in der Bayerischen Polizei mit Unterrichtseinheiten in der Ausbildung und als feste Ansprech- und Vertrauenspersonen wirken sollen.
Ein weiterer Punkt: Diese Themen nicht allein auf die Ausbildung zu beschränken, sondern auch im Bereich der Fortbildung weiter zu intensivieren. Schwald zufolge gehe es hier um eine Grundhaltung, die jede Polizeibeamtin und jeder Polizeibeamte über das ganze Berufsleben hinweg mit Überzeugung verinnerlicht haben sollte: Politische Bildung leistet einen maßgeblichen Beitrag, dass die Polizistinnen und Polizisten ihre Rolle auch darin verstehen, für die rechtsstaatlichen Werte und Prinzipien einzustehen und die in Gesetzen festgelegten Spielregeln des Zusammenlebens tagtäglich mit ihrem Engagement verteidigen.
Außerdem müsse das Gespür und die Resilienz der im Einsatz befindlichen Kolleginnen und Kollegen gegenüber antisemitischen Weltverschwörungserzählungen weiter gestärkt werden.
Knobloch: “Vergessen ist eine paradoxe Angelegenheit”
Die Präsidentin der Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern, Dr. Charlotte Knobloch, stellte ihre Ausführungen auf der Tagung unter das Thema “Gedenken allein reicht nicht”. Vergessen sei eine paradoxe Angelegenheit, sagte Knobloch. Der Mensch vergesse ständig, ohne, dass er bemerkt. Sobald er es aber darauf anlege, sich an bestimmte Dinge nicht mehr zu erinnern, seien sie in seinem Gedächtnis unauslöschlich. Von den eigenen Erinnerungen kann man sich nicht einfach absichtsvoll frei machen, so Knobloch.
Sie sieht die deutsche Öffentlichkeit seit dem 8. Mai 1945 von einer im Kern immer gleichen Debatte um die soziale Rolle und gesellschaftliche Bedeutung der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit begleitet. Heute sei das Gedenken in unserer Gesellschaft verankert. Was aber daraus folgt, darüber müsse noch diskutiert werden, meinte Knobloch. Sie fragte: Was ist angemessen, und an welcher Stelle? Wo wird aus gutem Willen zu viel, und wo aus vornehmer Zurückhaltung zu wenig? Was ist noch eine ehrliche persönliche Perspektive – und was ist schon Kitsch?
All das müsse immer wieder aufs Neue beantwortet werden. Knobloch zeigte sich “froh und dankbar, dass es diese Erinnerungskultur überhaupt gibt”. Sie habe selbst über viele Jahrzehnte eine ganz andere Realität erlebt.
Das Erinnern habe in Deutschland just zu der Zeit begonnen, als es unerlässlich wurde: gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die ersten Stimmen von Überlebenden verstummten und die verbliebenen Zeitzeugen älter und älter wurden. Erst jetzt forderten die jüngeren Generationen ein Ende des Schweigens ein – mit Erfolg.
Zukunft – niemals ohne Gedenken
Heute habe Erinnerung eine Lobby, physische Orte wie die vielen lokalen Denkmäler und Mahnmale – aber auch große, gewissermaßen nationale Orte des Gedenkens wie die “Topographie des Terrors” in Berlin und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas neben dem Brandenburger Tor.
Charlotte Knobloch beklagte, dass Judenhass heute so virulent sei wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Trotz Erinnern, trotz Gedenken. Antisemitismus-Prävention werde deshalb auch in Zukunft niemals ohne Gedenken auskommen. Prävention dürfe aber ihrerseits nur ein Teil der Strategie sein. Ihr müsse stets auch die Repression an die Seite gestellt werden, die dort ansetzt, wo Probleme mit rein präventiven Maßnahmen nicht mehr aufzufangen sind.
Konkret bedeutet das, dass Übertretungen derjenigen Grenzen, die im Grundkonsens der Bundesrepublik festgeschrieben sind, nicht ohne Sanktionen bleiben dürfen. Sie müssen mit staatlichen Strafen geahndet oder sozial geächtet werden – im Idealfall beides.
Das Gedenken bilde gewissermaßen den Sockel eines staatsbürgerlichen demokratischen Selbstbewusstseins, das die Gesellschaft – neben den beschriebenen staatlichen Maßnahmen – braucht, um Judenhass und andere Formen von Hetze und Diskriminierung in den Griff zu bekommen.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist aus Knoblochs Sicht mehr politische Bildung nötig, und zwar in allen Altersstufen. Sie plädierte für Demokratie-Erziehung – spätestens in der Grundschule, am besten schon im Kindergarten.
“Deshalb brauchen wir jetzt einen Schulterschluss von allen Mitgliedern der Zivilgesellschaft: von Parteien, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und Vereinen. Politik, Gesellschaft, Sicherheitsbehörden und die Justiz müssen an einem Strang ziehen – sonst ist das Vertrauen der jüdischen Gemeinschaft nur das erste, das verlorengeht”, so Knobloch.
Neben Vorträgen mit anschließenden Diskussionen bot die Tagung parallele Workshops zu folgenden Themen:
- Hass 2.0 – Hate Speech und Antisemitismus im Internet
- Projekt “Judaica zum Anfassen”/Projekt “Menschlichkeit bewahren!”
- Pädagogische Angebote der Europäischen Janusz Korczak Akademie
- Antisemitische Codes dechiffrieren und politisch einordnen
- Israelbezogener Antisemitismus in Deutschland
- Ausstellung “Mit Davidstern und Lederhose”
- Gegen Antisemitismus – Akteure vernetzen
Dorothea Grass
Bild: Tagungsprogramm in der Rotunde “Antisemitismus bekaempfen” (Foto: Haist/eat archiv)