Sorge über zunehmenden Antisemitismus

Beim Podiumsgespräch „Jüdisches Leben heute“ an der Evangelischen Akademie Tutzing bestätigten die Referenten einen wachsenden Antisemitismus in Deutschland.

Voll war das Auditorium am 29. November, interessiert die Gäste und dementsprechend lange dauerte die Gesprächsveranstaltung zum Thema „Jüdisches Leben heute – Erfahrungen und Perspektiven“. Die Fragen wollten nicht ausgehen und der Gesprächsbedarf war groß. Neben Akademiedirektor Udo Hahn hatten auf dem Podium Platz genommen: der Journalist und Autor Richard C. Schneider, der Psychologe, Autor und Coach Louis Lewitan sowie die Historikerin Dr. Julie Grimmeisen, akademische Leiterin im israelischen Generalkonsulat in München. Die Autorin Lena Gorelik hatte ihr Kommen kurzfristig absagen müssen.

Richard C. Schneider berichtete, dass er vor genau 31 Jahren auf ebendiesem Podium in Tutzing bereits zum gleichen Thema Platz genommen habe. Anlass war damals Schneiders Artikel in der Zeit: „Auf der Suche nach der verlorenen Heimat“. Mittlerweile lebt Schneider seit Jahren in Israel. Vor allem einen Aspekt daran schätzt er: „Das Tolle ist, dass ich in Israel nicht mehr Jude bin, sondern ein ganz normaler Mensch.“ In Deutschland erlebe er es nach wie vor, auf sein Judentum reduziert zu werden. Mit seiner eigenen Identität habe das in den meisten Fällen nichts zu tun, sondern um „die der anderem mit mir“, so Schneider.

Dass sich die antisemitistischen Vorfälle derzeit wieder häufen, erstaunt Schneider nicht. Er geht mit der Aufarbeitung der deutschen Geschichte hinsichtlich der Judenverfolgung und des Holocausts hart ins Gericht. „Verlogen“ sei die Aufarbeitung gewesen, vor allem habe sie nur auf offizieller Ebene stattgefunden. Wirklich verschwunden aus der Gesellschaft seien die Ressentiments nie. Antisemitismus sehe er als ein Problem der Mehrheitsgesellschaft, das seit 2000 Jahren „Teil der kulturellen DNA Europas“ sei. Die Politik jedoch nehme Antisemitismus bislang nicht wirklich ernst, es fehle eine konsequente Ächtung der antisemitischen Vorfälle und Einstellungen. Und Bildung sei kein Garant gegen Antisemitismus und Antizionismus.

„Gebildete Menschen sind nicht weniger anfällig für Vorurteile als ungebildete.“

Der Psychologe Louis Lewitan, der aus Lyon stammt und auf die Frage nach seiner Identität antwortet, er fühle sich „in erster Linie als Franzose“, ist der gleichen Meinung wie Schneider. Dass Bildung als Gegenmittel gegen Judenfeindschaft gepriesen werde, gehöre zum Standardrepertoire der Politik. „Doch gebildete Menschen sind nicht weniger anfällig für Vorurteile als ungebildete. Vorurteile geben Halt“, so Lewitan. Schließlich seien es jahrhundertelang gebildete Menschen gewesen – Bischöfe, Könige, Stadtkämmerer, Zunftmeister, Priester und Landesfürsten – die Hass auf Juden geschürt hätten. Lewitan fordert neben der klassischen Bildung vor allem Herzensbildung. „Wir reden in der Schule über Sinus-Kurven und Mars-Flüge, aber nicht darüber, wie wir miteinander umgehen“, so Lewitan.

Darüber hinaus fordert Lewitan, „aufzuhören mit der glorifizierenden Rede vom christlich-jüdischen Abendland“. Das hätte es so nie gegeben, allenfalls ein christliches Abendland, wo Juden als Fremde geduldet waren. Die Geschichte der Juden anzuhören, ihre Realität anzuerkennen und mit der Realität der Nichtjuden zu vergleichen, darin sieht er einen möglichen Weg der Verständigung. (Mehr dazu auch in seinem kürzlich in der ZEIT erschienenen Artikel.)

Julie Grimmeisen, die seit Anfang des Jahres akademische Leiterin im israelischen Generalkonsulat ist, zeichnet sich verändernde Wahrnehmungen auf israelischer und deutscher Seite nach. Nach der Gründung des Staates im Jahr 1948 habe das Land alles Deutsche aus seinem Gebiet verbannt, es gab auch keine Beziehungen beider Länder. In den 1950er Jahren begann die Phase der Annäherung, 1965 nahmen beide Staaten diplomatische Beziehungen zueinander auf. Heute gelte Deutschland in Israel als beliebtes Land. Auf deutscher Seite, so Grimmeisen, habe eine gegenteilige Entwicklung stattgefunden. Während 1967 etwa noch auf deutschen Straßen für den Staat Israel demonstriert wurde, werde seit der 2. Intifada das Land hier vor allem als Ort des so genannten „Nahost-Konfliktes“ wahrgenommen und darauf reduziert.

Ein Begriff, bei dem der Journalist Schneider interveniert. Als langjähriger Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv weiß er aus Erfahrung, dass der so betitelte Konflikt nicht alleine ein Konflikt zwischen Israel und Palästina sei, sondern ein komplexes Zusammenspiel von weit mehr Ländern – und noch mehr politischen Gruppierungen und ihrer Interessen. Auch der Begriff „Nahost-Politik“ weise über die Grenzen Israels und Palästinas hinaus.

dgr

Bild: Podiumsgespräch in der Rotunde der Evangelischen Akademie Tutzing. (Foto: dgr/eat archiv)

Die Gäste der Gesprächsrunde (v.l.n.r.): Louis Lewitan, Dr. Julie Grimmeisen, Richard C. Schneider. Rechts: Udo Hahn, Moderator des Abends und Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.

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