„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“ – für eine Kultur des Hinschauens
Wortlaut der Kanzelrede von Dr. Ludwig Spaenle in der Erlöserkirche Schwabing, 28.10.18.
Sehr geehrter Herr Hahn,
sehr geehrte Damen und Herren,
als ich die Kanzelrede vorbereitet und noch einmal durchgesehen habe, hat mich wie Sie die Nachricht getroffen, dass elf Menschen in den USA aus dem einzigen Grund, weil sie jüdischen Bekenntnisses sind, von einem Attentäter in den Tod gerissen und sechs andere verletzt wurden. Dass die Fratze des Antisemitismus in einem Land, das Freiheit auf sein Panier geschrieben hat, uns so tagesaktuell entgegenspringt, hatte wahrscheinlich weder Herr Hahn noch ich erahnen können, als ich diese Einladung für heute erhielt, über die ich mich sehr gefreut habe.
„Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“ . Es ist angesprochen worden: Dietrich Bonhoeffer hat diese dramatischen Worte 1938 formuliert.
In wenigen Tagen jährt sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal – ein – im Rückblick, wie wir wissen, Schlüsselereignis und eine weitere Eskalationsstufe im Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Jüdinnen und Juden im Unrechtsregime unter dem Hakenkreuz. Zwischen dem 9. und 11. November wurden in ganz Deutschland Hunderte Synagogen, jüdische Gemeindeeinrichtungen und Privathäuser von Jüdinnen und Juden zerstört. Tausende Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. Der Startschuss zu dem historischen Akt der Entgleisung ging – nur wenige Kilometer südlich von hier – vom alten Rathaus in München aus – es war Joseph Goebbels.
Allzu wenige sahen die radikalen Absichten der rassistischen Herrschaft der Nazis mit der nötigen Klarheit. Dieses Fanal der Reichspogromnacht zeigte aber deutlich und für jedermann sichtbar, was sich zunächst meist in sporadischen Gewalttaten und willkürlichen Verhaftungen ereignet hatte. Man sah jetzt die systematische Verdrängung der Jüdinnen und Juden aus allen gesellschaftlichen Bereichen, schließlich durch den pseudo-legalen Erlass der sogenannten „Nürnberger Gesetze“, was sich wenige Jahre vorher angedeutet hatte: Das nationalsozialistische Regime war gewillt, Jüdinnen und Juden bis zum Tod, zur physischen Vernichtung zu verfolgen und jüdisches Leben in Deutschland und später sogar im gesamten besetzten Europa aus ihrer Sicht „für immer auszulöschen“.
Kaum Gegenwehr gegen das rassistische Handeln der Nationalsozialisten – Dietrich Bonhoeffer übt Kritik an rassistischer Politik
Ja, es waren wenige, die sich dieser Entwicklung entgegenstellten und hörbar aufbegehrten, schließlich noch dagegen aktiven Widerstand leisteten. Einer dieser wenigen war der evangelische Theologe und Vertreter der Bekennenden Kirche Dietrich Bonhoeffer.
Dietrich Bonhoeffer hat übrigens während seiner Zeit in München (1940) wenige hundert Meter von der Erlöserkirche entfernt hier in Schwabing gewohnt, nämlich bei seiner Tante Christine von Kalckreuth in der Unertlstraße.
Am 9. November 1938 brannten die Synagogen brannten. Bonhoeffer hat in seiner Studienbibel Psalm 74, Vers 8, unterstrichen: “Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande!” Daneben setzte er das Datum des 9. November 1938. Doch Bonhoeffer beließ es nicht bei der privaten Erkenntnis, reduzierte seine Ansicht nicht auf das stille Kämmerlein, sondern er trug seine Anschauung auch in sein berufliches Umfeld. Aus seiner Tätigkeit im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Pommern ist der Ausspruch überliefert, unter den ich meine Kanzelrede gestellt habe: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“
Dietrich Bonhoeffer war einer der wenigen, die hingeschaut haben.
Die Bekennende Kirche stellte sich aktiv gegen die staatlichen Bemühungen mit den sogenannten „Deutschen Christen“ unter dem evangelischen Reichsbischof Johann Heinrich Ludwig Müller, die eine Synthese zwischen Christentum und Nationalsozialismus propagierten. Die Deutschen Christen wollten eine obrigkeitshörige, führergläubige Spielart des Protestantismus schaffen.
Einen öffentlichen Protest gegen die Verheerungen der Reichspogromnacht brachte die Bekennende Kirche nicht zustande, er blieb auch – von Aussagen einzelner abgesehen – in der folgenden Zeit aus. Ich darf ergänzen: Auch von Seiten der katholischen Kirche wurde – Einzelpersonen ausgenommen – kein Widerstand gegen die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten geleistet.
Anders gesagt: Der „gregorianische Gesang“, den wir in diesem Sinne allgemeiner als christlichen Gesang deuten müssen, wurde fortgesetzt, der „Schrei für die Juden“ unterblieb. Dietrich Bonhoeffer gehörte in gewisser Weise zu den Ausnahmepersönlichkeiten ebenso wie etwa auf katholischer Seite Konrad Kardinal von Preysing.
Dietrich Bonhoeffer ließ die sich ihm bietende Möglichkeit ungenutzt, sich den staatlichen Schikanen gegen ihn als Vertreter der Bekennenden Kirche zu entziehen. Von einer Reise nach England und in die USA kehrte er im Sommer 1939 nach Deutschland zurück. Bei einer Jugendfreizeit in Ostpreußen wurde er von der Gestapo verhaftet. Er wurde mit Redeverbot belegt und ihm wurde Meldepflicht auferlegt. Durch seine Kontakte zur militärischen Abwehrorganisation des Admirals Canaris konnte er sich der Gestapo zunächst entziehen. Als ziviler Beauftragter der Abwehr musste er sich polizeilich in München anmelden und verbrachte mehrere Monate in der Benediktinerabtei Ettal.
Später war er an Planungen der Abwehr beteiligt, die unter dem Decknamen „U 7“ sieben Berliner Juden in die sichere Schweiz verbringen konnte. Dieser Umstand wurde ihm nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1943 besonders schwer angelastet.
Nach langer Gefängnishaft in Berlin wurde Dietrich Bonhoeffer im Februar 1945 mit anderen prominenten sog. „Sonderhäftlingen“ zunächst in das KZ Buchenwald verbracht. Die Agonie des an allen Fronten zurückgedrängten NS-Regimes hinderte dieses nicht daran, seine Feinde bis zuletzt mit äußerster Brutalität und bis zum Tod zu verfolgen. Dietrich Bonhoeffer wurde ins KZ Flossenbürg in der Oberpfalz verschleppt und am 9. April 1945 erhängt – gemeinsam mit Admiral Canaris, Major Oster und anderen Vertretern des militärischen Widerstands.
Dietrich Bonhoeffer als Vorbild für aufrechtes Handeln
Dietrich Bonhoeffer ist nach allen gängigen Maßstäben das, was man ein Vorbild nennen kann. Welche anderen Voraussetzungen für sein Tun fände er im Hier und Heute vor? Eine demokratische Gesellschaft mit unveräußerlichen Grundrechten seiner Bürger, ein wohlhabendes Land, das zum Zielort für Menschen aus aller Welt geworden ist. Ein Land, in dem Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit herrschen, ein Land, in dem der Glaube keinen Grund zu staatlicher Verfolgung bietet, ja der Staat sogar einen Beitrag leistet, dass die Menschen ihren Glauben aktiv leben dürfen. Ja mehr noch, die Mütter und Väter unserer Verfassung haben aus den Erfahrungen in der Nazizeit Konsequenzen gezogen und haben ein besonderes Verhältnis zwischen Staat und Kirche geschaffen, das in dieser Form weltweit seinesgleichen sucht.
Antisemitismus erreicht neue Dimension
Umso erstaunlicher, ja umso erschreckender ist es, dass in unserem Staat, von dem aus vor 80 Jahren der gewaltsame Akt der Verfolgung und der Vernichtung der Juden ausging, der Antisemitismus uns immer wieder und immer noch seine hässliche Fratze zeigt – und zwar in unterschiedlicher Form und aus unterschiedlichen Motiven.
Mit Bestürzung registrieren wir verbale und physische Gewalt gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das lange Zeit gültige Tabu antisemitischer Sprache und Tat scheint schwächer zu werden. Wir haben ein aktuelles Beispiel geschildert bekommen. Wir müssen feststellen, dass gesellschaftliche Hemmschwellen sinken. Ein Ausweis ist die Zahl antisemitischer Straftaten. Das zeigen auch die Polizeistatistiken, die von 2017 bis 2018 deutlich zugenommen hat. So lag die Zahl antisemitischer Gewalttaten im ersten Halbjahr 2018 bei 401. Im Vergleichszeitraum 2017 lag sie noch um gut 10 Prozent niedriger. Die Zahl aller antisemitischen Straftaten liegt deutlich höher, leider auch in Bayern.
Nirwana des Internets
Woher kommt diese Entwicklung? Antisemitismus ist so alt wie das Judentum selbst. Seit dem Jahr 70 nach Christus war das Judentum die wohl prominenteste Minderheit auf diesem Erdball. Und das Judentum sah sich immer der Erklärungsnot ausgesetzt, sich in Mehrheitsgesellschaften einzubringen und dabei ein Stück weit seine Identität zu bewahren. Und das stieß immer wieder auf Ablehnung, auf Abneigung, auf Erklärungsbedarf, auf Missverständnisse.
In unseren Tagen geht eine Verrohung von Teilen der Gesellschaft einher, die sich nicht nur, aber auch auf antisemitische Einstellungen, Aussagen und Handlungen bezieht. Die Gründe sind vielfältig, aber auch neu: Die Globalisierung, das Nachlassen sozialer Bindungen mögen dabei eine Rolle spielen. Aber ein Element zeigt seine Wirkung in besonders krasser Weise, das ein Stück weit dem technischen Fortschritt geschuldet ist: Im Nirwana des Internets lassen sich Ressentiment und Hass mühelos und schrankenlos verbreiten. In den Filterblasen treffen sich Gleichgesinnte und bestätigen sich in ihren vorurteilsbeladenen Weltbildern. Die Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urstände. Es werden Tatsachen nach Bedarf und Interessenlage verdreht, Nachrichten manipuliert und verfälscht. Und jetzt der entscheidende Punkt: Aus Ideen und Ansichten werden Worte, aus Worten leider rasch Handlungen. Deshalb bedarf es einer Kultur des Hinschauens, des Hinschauens, weil es viele Spielarten und unterschiedliche Motive des Antisemitismus gibt, die manchmal nicht unbedingt sofort zu erkennen sind.
Für uns alle erschreckend ist das Erstarken rechtsgerichteter, populistischer Parteien und Bewegungen. Mich trifft es als Politiker und als Historiker besonders hart, dass der gesellschaftliche Konsens des „Nie wieder“ in Teilen der Gesellschaft anscheinende zur Disposition steht. Wer das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in der Mitte unserer Hauptstadt als „Mahnmal der Schande“ bezeichnet, wer die zwölf Jahre nationalsozialistischer Gewaltherrschaft als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ (beides Zitate) abtut, der zeigt deutlich, an welche geistige Haltung hier angeschlossen wird. Hier geht es um bewusst kalkulierte Tabubrüche, auch wenn diese nachher scheinbar relativiert werden. Selbst diese Relativierung ist Teil einer Strategie, Teil einer Strategie, der es darum geht, Grenzen für Aussagen und Handlungen sukzessive zu verschieben.
Doch auch in der Maske der Israel-Kritik treten nicht selten antisemitische Auffassungen deutlich zutage – nicht zuletzt im linksextremen Feld. Kritik an jeder Regierung auf der Welt ist legitim und möglich. Doch es findet sich kein Land der Welt, dessen Eigenname als Kompositum mit dem Wort „Kritik“, also „Israelkritik“, im Duden verzeichnet wäre – außer eben der Staat Israel.
Aktueller denn je sehen wir uns in Deutschland, auch in Bayern, mit islamistisch begründetem Antisemitismus konfrontiert – Vorfälle wie in Berlin haben bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Es bedarf auch hier einer Kultur des Hinschauens. Es kann nicht sein und es ist schlimm genug, wenn der Präsident des Zentralrats der Juden, Dr. Schuster, einmal davor gewarnt hat, die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen. Dies kann nicht sein.
Mit dem Zuzug Zehntausender Muslime in den vergangenen Jahren kamen viele Menschen zu uns ins Land, die mit einem antisemitisch grundgeprägten Weltbild von Jugend an sozialisiert wurden, denen von Jugend an Israel als Feindesland präsentiert wurde. Mir selbst wurden in den vergangenen Monaten eine ganze Reihe von Vorfällen in diesem Umfeld leider auch in München bekannt.
Wachsamkeit ist gefragt – Beauftragte für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus
Angesichts dieser komplexen Situation sind wir alle, jeder Einzelne und jede Einzelne, zu intellektueller Wachheit, Wachsamkeit und Gegenwehr aufgefordert. Und zwar auf einem Menschenbild, das auf den Werten der christlich-abendländischen Gesellschaft und der Aufklärung ruht. Von hier aus bedarf es dieser Kultur des Hinschauens.
Auch die Politik hat auf diese schwierige Situation reagiert und tut dies – nicht nur mir der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Strafrechts. Es geht vor allem darum, dass wir in unserer Gesellschaft das Bewusstsein neu schärfen und dass der Staat sich offen bekennt, bekennt, dass er an der Seite der Jüdinnen und Juden in unserer Mitte steht.
Die Einrichtung eines Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung – auch in anderen Ländern und auf Bundesebene – die sich mit diesem Thema beschäftigen, setzt hier ein wichtiges Zeichen. Wichtig ist aber auch, dass nun voransteht, für was die Beauftragung steht: nämlich für jüdisches Leben in der Mitte unserer Gesellschaft, gegen Antisemitismus, und für die Erinnerung an das, was in deutschem Namen geschah – und das bleibt auch mit dem Begriff des Zivilisationsbruchs immer noch ungenügend beschrieben. Wichtig ist, dass wir unser historisches Erbe wahrnehmen und annehmen. Das ist die Beauftragung, die mir aufgegeben ist. Es geht bei dieser Arbeit, es geht bei diesem Ringen um eine Kultur des Hinschauens um nichts weniger als um die Bewahrung der Menschenwürde im Alltag.
Dass es diese Beauftragten heute gibt, ist auf der einen Seite gut, auf der anderen Seite aber löst es ein zwiespältiges Gefühl aus: Ich hätte mir selbst in meiner politischen Arbeit vor zehn Jahren nicht vorstellen können, dass solche Funktionen einmal als notwendig erachtet und dringend gebraucht werden. Mir ist bewusst, dass diese Aufgabe sehr groß ist, man im Prinzip sisyphusartig unterwegs ist, und dass es darum geht, dass wir als Gesamtgesellschaft uns diesem Phänomen stellen. Aber diese Beauftragten stellen – und da passt der Begriff einmal – ein Commitment unseres Staates und unserer Gesellschaft dar. Wir stehen an der Seite der Jüdinnen und Juden in diesem Land. Wir können Impulse geben.
Wir stellen fest, dass wir viele positive Reaktionen erhalten. Im Gespräch etwa mit den israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, die ich im Moment führe, insbesondere mit deren Sozialreferentinnen und –referenten, wurde uns und mir sehr deutlich gemacht, dass ein solcher Ansprechpartner bisher gefehlt hat. Wenn antisemitische Vorfälle in der Öffentlichkeit bekannt wurden, so schildern es die Jüdinnen und Juden und ihre Vertreter, dann kam man über die tagesaktuelle Erregung hinaus oftmals zu der Aussage: „Das ist Eure Sache“. Es ist nicht ihre Sache. Es ist unsere Sache, wenn in der Mitte unserer Gesellschaft Menschen aufgrund ihres Glaubens in ihrer Unversehrtheit angegangen werden. Deshalb erscheint es auch wichtig, dass die Fortsetzung dieser Tätigkeit auf allen Ebenen stattfindet.
Konkrete Vorhaben – Meldestelle, Jugendwerk und Digitalisierung von Archiven
Mir liegt an ganz konkreten Schritten und Maßnahmen – neben dem Symbol, dem Signal und natürlich der Tätigkeit, Jüdinnen und Juden an der Seite zu stehen. Ein erster wichtiger Schritt liegt in der Einrichtung einer niedrigschwelligen Meldestelle für antisemitische Vorfälle. Über eine Internet-Seite, später auch telefonisch, sollen jüdische und jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger die Möglichkeit erhalten, Vorfälle, in denen sie angegangen wurden, von Beschimpfungen bis hin zu physischen Übergriffen, zu melden – ohne große Hürden, bei möglichst weitgehender Wahrung der Anonymität. Das ist nötig, weil es auch hier eine Schwelle, eine Hemmschwelle, gibt, über die geschritten werden muss, im Einzelfall, mir sind solche Fälle geschildert worden, sich auch gegenüber Sicherheitskräften zu offenbaren. Hier brauchen wir eine Möglichkeit, dass auch mit geschultem Personal entsprechend beraten und ebenfalls dann im Einzelfall mit den Sicherheitsbehörden in Kontakt getreten werden kann. Damit können wir Menschen, die unter solchen Vorfällen leiden, ein Stück weit Hilfe anbieten.
Ich sage aber noch einmal: Darüber hinaus müssen wir alle öffentlich für die Kultur des Hinschauens streiten. Was heißt das? Dass ein junger Jude ganz konkret, der hier in Schwabing wohnt, der in der U-Bahn zur Münchner Freiheit saust, der auf seinem Handy den Davidsstern als Zeichen des Staates Israel hatte, in der U-Bahn angepöbelt wurde – und die Menschen haben weggesehen. Das ist das mit der Kultur des Hinschauens im Alltag. Das ist ein Stück Zivilcourage. Wenn man einem solchen Menschen an die Seite tritt, mag sein, dass der eine oder andere ablässt von diesem Tun.
Doch es ist mir wichtig, den Kampf nicht nur gegen etwas zu führen, sondern auch Positives zu benennen, Kenntnis davon zu geben, dafür zu werben, sich mit dem auseinanderzusetzen. Das war ein Wunsch von Seiten der jüdischen Community, dass wir für jüdisches Leben, für Erinnerungsarbeit und in Bayern auch für geschichtliches Erbe und seine Tradierung eintreten. Der Einsatz für jüdisches Leben basiert auf dem Grundgedanken, dass eigene Erfahrungen und eigenes Wissen gute Mittel gegen Vorurteile und Hass sind. Es geht auch darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jüdisches Leben seit Jahrhunderten unser Land prägt. Man kann vielleicht sagen, dass hier im Land südlich des Limes mit dem Kommen der Römer auch jüdisches Leben sicher hier begonnen hat. Und hier in unserer Stadt war es Abraham der Municher. Seit Jahrhunderten prägen Jüdinnen und Juden dieses Land. Es ist mir ein Anliegen, dass dieser Spruch „Wenn Dir hier etwas nicht passt, dann geh in deine Heimat Israel!“ nicht mehr fällt. Das ist ein ganz wichtiges Moment.
Wir müssen auch das Bild des Staates Israel in seiner ganzen Differenziertheit deutlicher machen. Und was kann dazu besser beitragen als das gegenseitige Kennenlernen. Deswegen habe ich den Vorschlag unterbreitet, ein bayerisch-israelisches Jugendwerks zu schaffen, das aufsetzen kann auf Jahrzehnte von Austauscharbeit unterschiedlichster Einrichtungen und Personen. Ich habe selbst in meiner früheren Funktion einen Rahmenvertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem Staat Israel schaffen können, der sich genau mit diesen Fragen der Erinnerungsarbeit, des historischen Lernens, des Austausch beschäftigt. Aber wir müssen einen Schritt weiter gehen. Wie wir wissen, hat die Frau Bundeskanzlerin bei ihrem letzten Besuch mit den Vertretern der Bundesregierung diesen Gedanken auch aufgegriffen, auf Bundesebene diesen Weg einzuschlagen.
Wichtig ist Lernen voneinander und Lernen im Umgang mit dem anderen. Im schulischen Bereich setze ich mich für eine stärkere Vermittlung des Nah-Ost-Konflikts ein, vor allem aber eben auch für die Vermittlung eines differenzierten, faktengetreuen Bildes des Staates Israel. Das ist 70 Jahre nach der Staatsgründung immer noch notwendig, ja neu notwendig.
Schließlich – und hier schließt sich wieder der Kreis zur Reichspogromnacht 1938 – geht es mir darum, ein Stück weit auch den Auftrag des historischen Erbes weiterzutragen. Dazu habe ich ein besonderes Projekt vorgeschlagen. In der Reichspogromnacht kam von Heydrich die Anordnung, die Archive der zu zerstörenden und dann auch zerstörten jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland sicherzustellen und zu sammeln, zusammenzuführen, um was auch immer nach dem sog. „Endsieg“ Perverses damit anzustellen. Diesem Auftrag wurde Folge geleistet. Diese Archivalien haben den Krieg überlebt und sind Anfang der 1950er Jahren an den jungen Staat Israel überstellt worden. Und ich war selbst in Jerusalem und konnte mich im Nationalarchiv des Jüdischen Volkes nicht nur von deren Existenz überzeugen, sondern auch deren Reichtum ein Stück weit kennenlernen. Mein Vorschlag, der aus der Wissenschaft kommt, geht dahin, dass die Archivalien dieser mehr als 300 ehemaligen jüdischen Gemeinden in Bayern digitalisiert werden und über die Staatlichen Archive Bayern einsehbar werden – für die Wissenschaft und für alle Interessierten. Und es geht ein Stück weit darum, der Landkarte Bayerns ihr jüdisches Gesicht wiederzugeben. Die Fachbehörden haben eine Landkarte digital erstellt und haben die Orte, an denen jüdisches Leben, insbesondere im Schwäbischen und im Fränkischen auch mit dem sog. Landjudentum vor 1945 präsent war, dargestellt. Atemberaubend und beeindruckend ist es, welche Dichte das Netz jüdischer Gemeinden vor der Shoah hatte.
Wir geben so Bayern – ich sage es noch einmal – sein jüdisches Gesicht wieder, wenn dieser Weg gegangen werden sollte.
Summa
Nur mit einer engagierten Kultur des Hinschauens werden wir heute unserer Verantwortung für Jüdinnen und Juden in unserem Land gerecht. Denn unter vielfältigen Gestalten und unterschiedlichen Motiven – ich konnte das nur bruchstückhaft anreißen – kommt der Antisemitismus wieder zum Vorschein. Ja, er war immer da. Wir sind also gefordert, uns an die Seite von Jüdinnen und Juden zu stellen. Dietrich Bonhoeffer hat uns in schwierigster Zeit mit seinen aufrüttelnden Worten dazu den Auftrag gegeben. „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen.“ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bild: Dr. Ludwig Spaenle am 28.10.2018 in der Erlöserkirche an der Münchner Freiheit (Foto: dgr/eat archiv)