Wolfgang Thierse zum 75. Geburtstag
Von Udo Hahn
„Wir müssen an der Demokratie arbeiten.“ Diese Forderung hat Bundestagspräsident a.D. Dr. h.c. Wolfgang Thierse in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zum 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, erhoben. Thierse, der am 22. Oktober seinen 75. Geburtstag feiert, gibt nicht nur Ratschläge: durch sein persönliches Engagement lebt er vor, wie das geht. Nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 2013 – nach 23 Jahren – ist er weiter bestens vernetzt, hält Vorträge, schreibt Gastkolumnen. Und leitet seit 2016 den Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing. Nach Theo Waigel ist er der zweite Katholik in diesem Ehrenamt – und der erste katholische, ostdeutsche Sozialdemokrat. Als Leiter des Politischen Clubs ist Wolfgang Thierse Ideen- und Gastgeber zugleich. Ein interessiertes Publikum dankt ihm für Tagungsthemen am Puls des Zeitgeschehens. Ob es um neue Regeln für den Welthandel geht, um die Krise der Parteiendemokratie, Integration, Medien im Wandel – oder vom 16. bis 18. November um den „Streit um Heimat“: Letztlich geht es immer um die Arbeit an der Demokratie, selber denken zu lernen und Mut zu machen zum Engagement in der Zivilgesellschaft.
Demokratie ist auf die Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Und darauf, dass diese sich konstruktiv einbringen. Auch Thierse beschäftigt, dass im Internet ein Kommunikationsklima anzutreffen ist, das durch eine Verrohung der politischen Auseinandersetzung gekennzeichnet sei, wie er in einem Gastbeitrag der Evangelischen Akademie Tutzing 2016 schrieb. Nach seiner Einschätzung dient das Internet vielen Usern nur noch „als bloßer Echoraum, als Verstärker, als Pauke des Populismus.“ Für Thierse ist das weltweite Netz nichts anderes als ein „unbegrenzter Stammtisch, an dem man seiner Wut und seinem Hass freien Lauf lassen kann.“
„Mit Gott darf man keine Herrschaft begründen. Aber die Freiheit schon“
Eine liberale Demokratie hingegen ist angewiesen auf Diskursivität. Sie braucht den argumentativen Streit. Sie muss eingehen auf die Meinung des anderen, und sie muss Kompromissbereitschaft zeigen. Für den ehemaligen Bundestagspräsidenten steht fest, dass zur Verteidigung unserer liberalen Demokratie die Verteidigung und Gestaltung von Räumen, Orten und Institutionen der Diskursivität gehören. Hierzu zählt Wolfgang Thierse seriöse Zeitungen, pluralistische Massenmedien und eben auch die katholischen und evangelischen Akademien. Wenn wir nicht mehr bereit sind, den anderen zuzuhören, deren Meinung zu respektieren, deren Argumente zu würdigen und nach Gemeinsamkeiten zu suchen – so schlussfolgert er – dann gewinnen die anderen, „die Populisten, Fundamentalisten und Extremisten.“
Zu den vielen Gaben, die Wolfgang Thierse auszeichnen, gehört auch diese: Gedanken auf den Punkt zu bringen – zu vereinfachen, ohne zu simplifizieren. „Mit Gott darf man keine Herrschaft begründen. Aber die Freiheit schon“, schrieb er unlängst in einem Beitrag für die Zeitschrift Publik Forum. In diesem Text ging er, der sich selbst als „protestantischen Katholiken“ bezeichnet, auch auf die Bedeutung der Christen und Kirchen für das Gemeinwesen ein. Wörtlich formulierte er: „Als Politiker füge ich hinzu, dass der säkulare demokratische Staat sehr dumm wäre, wenn er auf dieses Potential verzichten wollte. Selbstbewusst darf man wohl sagen: Christen und Kirchen haben Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mitgestaltet durch ihr politisches Engagement, ihre sozialen Leistungen, ihre Bildungsarbeit, ihre moralischen Interventionen. Das Christentum ist ein prägender Teil Deutschlands. Und dieses Land ist bei allen Unzulänglichkeiten ganz gut damit gefahren. Es hat vom Engagement der Christen durchaus profitiert. Und es profitiert zunehmend auch vom Engagement der Juden wieder und der Muslime mehr und mehr. Der weltanschaulich neutrale demokratische Staat bleibt auf Menschen angewiesen, die sich in Weltanschauungs- und Religionsfragen nicht neutral verhalten – die sich aber ausdrücklich auf Fairness und Friedfertigkeit im Verhältnis zueinander verpflichten lassen (worauf der Staat mit seinen Gesetzen zu achten hat)! Diese nicht neutralen Bürger machen den Staat – mit ihrem Gottesglauben oder Unglauben.“
Die Evangelische Akademie Tutzing gratuliert dem Leiter ihres Politischen Clubs zum 75. Geburtstag. Sie freut sich über kommende Impulse – dem gemeinsamen Anliegen verpflichtet: „Wir müssen an der Demokratie arbeiten.“
Foto: Wolfgang Thierse bei der Herbstagung des Politischen Clubs 2016.
(Foto: Schwanebeck/eat archiv)