Die vermeintliche Selbstverständlichkeit der Sicherheit
Die aktuellen Krisen und Katastrophen zeigen, dass wir von wirklichen Lösungsansätzen im Hinblick auf die drei Problemkomplexe Klimawandel, globale Armut und Abstiegsangst in den Mittelschichtskreisen privilegierter Länder weit entfernt sind. Der österreichische Ökonom Richard Sturn ist dennoch überzeugt: “Ein breiter, glaubwürdiger Pakt für mehr Sicherheit in einer unsicheren Welt wäre möglich.”
Von Richard Sturn
“Wir übernehmen den Vorsitz im Rat der Europäischen Union und setzen uns gemeinsam für ein Europa ein, in dem Sicherheit, Stabilität und Wohlstand auch in Zukunft selbstverständlich sind.”
Dieser Satz fand sich im “Offenen Brief”, den die österreichische Bundesregierung am 1. Juli 2018 zu ihrem Antritt der EU-Ratspräsidentschaft in europäischen Zeitungen veröffentlichte. Leider sind die angestrebten Selbstverständlichkeiten Ende 2024 weiter entfernt als je zuvor in den letzten Jahrzehnten. Schon lange sichtbare Bruchlinien konträrer geopolitischer Vorstellungen breiteten sich weiter aus. Die Liste virulenter Krisenszenarien ist lang: der Israel-Palästina-Konflikt samt seinen unabsehbaren Weiterungen, drohende Eskalationen im Russland-Ukraine-Krieg sowie ein Handelskrieg zwischen den USA und China, der von geostrategischer Rivalität getrieben wird und das Potenzial zu brandgefährlichen, wenn nicht katastrophalen Zuspitzungen in sich birgt. Durch die Vielzahl dieser Szenarien sind andere Krisen momentan in den Hintergrund getreten. So etwa die Krise supranationaler Institutionen (Stichwort Brexit), das widersprüchliche Agieren des Westens angesichts islamistischer Herausforderungen, und die Krisenpotenziale auf den Finanzmärkten. Dies alles wird überschattet von der Klimakrise, die mit einer Reihe weiterer Nachhaltigkeits-Dilemmata und Kipppunkten verknüpft ist.
All diese Krisenszenarien sind nicht neu. Viele bedrohliche Entwicklungen nehmen sich Anfang 2025 noch brisanter aus als Mitte 2018. Die Beschwörung der vermeintlichen Selbstverständlichkeit von Sicherheit durch die EU-Ratspräsidentschaft war schon damals eine strategische Notlüge angesichts der drei globalen Kardinalprobleme, die der türkische Ökonom Dani Rodrik von der Harvard University als Trilemma darstellt: Klimawandel, globale Armut und die Abstiegsangst breiter Mittelschichten in den “reichen” Ländern.
“America First” als Reaktion auf Abstiegsangst
Die Protagonisten “selbstverständlicher Sicherheit” hatten damals längst erkannt, dass es seit den 1990ern ein politisch erfolgreiches, rechtspopulistisches Geschäftsmodell gibt, dem auch massive, sich periodisch wiederholende Skandale seiner Vertreter in Deutschland, Europa und darüber hinaus mittelfristig kaum etwas anhaben können: Auf Abstiegsangst wird mit Slogans wie “America first” reagiert. Dabei dient als strategischer Hebel der Vorwurf an die bisher bestimmenden Eliten, sie kümmerten sich nur um die ersten beiden Problemkomplexe “Klimawandel” und “globale Armut” – während die einheimische Mittelklasse außen vor bleibe. Donald Trump bringt explizit auf den Punkt, was auch den europäischen Rechtspopulismus nährt: Die “Eliten” hätten durch die Globalisierung sowohl den Aufstieg von Hunderten Millionen Menschen in den Schwellenländern des Globalen Südens als auch die Immigration aus anderen Ländern des Globalen Südens begünstigt, wohingegen Trump selbst für die zu kurz gekommene einheimische Mittelklasse und Arbeiterschaft eintrete. Existenz und Relevanz des Klimawandels sei zweifelhaft und der Kampf dagegen sei jedenfalls keine Priorität im Sinne amerikanischer Interessen.
Dass auf diesem Wege weder die Abstiegsangst noch die ihr zugrundeliegenden Folgen einer unzureichend geregelten Globalisierung nachhaltig zu beseitigen sind, schadet dem Geschäftsmodell nicht. Im Gegenteil: Damit ist sichergestellt, dass das Geschäftsmodell immer wieder einen Nährboden findet und auflebt.
Die aktuellen Krisen und Katastrophen zeigen jedoch, dass wir von wirklichen Lösungsansätzen im Hinblick auf die drei Problemkomplexe noch weiter entfernt sind als 2018. Die Erfolge des Geschäftsmodells, das Glaubwürdigkeit in puncto Absicherung gegen Abstiegsangst durch Polemik gegen jene erzielt, die sich vermeintlich zu viel um Klima und globale Armut kümmern, sind größer denn je.
Hilfreich kann heute hingegen sein, der deutschen Ökonomin Isabella Weber von der University of Massachusetts zuzuhören. Sie prägte vor diesem Hintergrund den Begriff der “antifaschistischen Wirtschaftspolitik”, die dem Rodrik-Trilemma wirklich Rechnung trägt. Weber betont, die gegenwärtige Schieflage werde dadurch verstärkt, dass viele Anbieter heute die Macht haben, Preise zu erhöhen und damit höhere Gewinne einzufahren – auf Kosten der Beschäftigten, die sich durch Inflation weniger leisten können. Dies verstärke Abstiegsängste und bringe rechtspopulistischen Parteien neuen Zulauf. “Antifaschistische Wirtschaftspolitik” hingegen bedeutet in so einer Situation Preiskontrollen in klug ausgewählten Schlüsselsektoren und eine Wirtschaftspolitik mit Fokus auf die Interessen breiter Bevölkerungsschichten. Wirtschaftspolitik solle an den Sorgen und Nöten der Menschen orientiert sein anstatt dem Dogma der freien Preisbildung zu folgen. Preissteigerungen dienen in einer Situation der Inflation zu oft nicht als Knappheitssignale, sondern den Interessen jener, die größere Preissetzungsmacht haben (allen voran die Energiekonzerne).
Perfekte Sicherheit wird es nicht geben
“Wir müssen systematisch zuhören, um zu verstehen, wo die Sorgen der Menschen sind. Und dann diese Sorgen adressieren, anstatt darauf zu hoffen, dass wenn wir zum Beispiel eine Chipindustrie aufbauen, als Nebenprodukt auch ein paar Arbeitsplätze entstehen”, so Isabella Weber in der Tageszeitung Taz.
Wenn Politik, wie Weber empfiehlt, direkt auf die Sorgen und Interessen der breiten Bevölkerungsschichten abzielen würde, so könnte deren Abstiegsangst entgegengewirkt werden. Perfekte Sicherheit wird es nicht geben, aber ein breiter, glaubwürdiger Pakt für mehr Sicherheit in einer unsicheren Welt wäre so möglich.
Dazu wäre aber das Überdenken einiger “Theorien” nötig, die die Globalisierung der 1990er Jahre geprägt haben. Denn auch viele Akteure im politischen Mainstream, die den Problemkomplex “Klimawandel” ernst nehmen, bringen heute rhetorische Sturmgeschütze zur Vorwärts-Verteidigung “unserer” Sicherheit und “unseres“ Wohlstands auf Basis solch unzureichender “Theorien” in Stellung: Ihr Sensorium zum lösungsorientierten Umgang mit Abstiegsangst ist unterentwickelt (Beispiel Inflation) und der Problemkomplex “Armut global” wird von geopolitischen Zielen überblendet. Das von Ursula von der Leyen propagierte De-Risking (eine Verlagerung von Handel und Investitionen weg von China) und das damit verwandte Friend-Shoring (ein Abzielen auf vermeintlich risikoarme Lieferketten), aber auch vermehrte Rüstungsanstrengungen und restriktive Migrationspolitik sind Ad-hoc-Reflexe im Taumeln von der einen Krise zur nächsten: Sie lassen das Verständnis übergreifender und globaler Probleme vermissen. Gewiss: Der Anspruch auf selbstverständliche Sicherheit und Wohlstand ist mitunter einer Rhetorik gewichen, die Opferbereitschaft einfordert. Dadurch öffnet sich aber weder der Blick auf die drei Kardinalprobleme in ihren Zusammenhägen noch wird Glaubwürdigkeit erzielt. Die Lücke zwischen sicherheitspolitischer Beschwörungsrhetorik und den realen Fähigkeiten und Aussichten zur Herstellung von Sicherheit ist nicht kleiner geworden – im Gegenteil.
Diese Konstellation geht zudem mit der Verfestigung einer konfliktträchtigen geopolitischen Situation einher: Multipolarität ohne Multilateralismus. Multipolarität ist heute ein Faktum. Selbst wenn die im sogenannten “unipolar moment” in den 1990er Jahren entstandene “regelbasierte” Ordnung der Globalisierung durch und durch vernünftig sein sollte, könnte sie heute letztlich nicht von der einzigen Macht der Gegenwart, die als Ordnungsmacht in Frage kommt (den USA) durchgesetzt werden, obwohl deren Sanktionspotenzial gewaltig ist.
Eine Bottom-up-Reform tut not
Es spricht aber viel dafür, dass die Regeln dieser Ordnung einseitig und grob mangelhaft sind. Sie sind in markt- und globalisierungseuphorischen Zeiten entstanden, unter unangefochtener westlicher Dominanz. Wenn nun schon in westlichen Metropolen der Ruf “take back control” ertönt, weil supranationale Regelsysteme den wirtschafts- und soziapolitischen Handlungsspielraum von Regierungen aushöhlen, wie kann man dann erwarten, dass sich der globale Süden diesen Regeln freudig unterwirft? Zumal es evident ist, dass sich die heute einigermaßen wohlhabenden Länder nicht an das Skript gehalten hatten, das durch jene Regeln vorgegeben wird?
Eine ernsthafte Reform dieser regelbasierten Ordnung tut not – und zwar eine, die “bottom-up” und nicht “top down” erfolgt. Bottom-up heißt, nicht bei einem Idealmodell zu beginnen, sondern durch ein gemeinsames multilaterales Sondieren die Regeln auszuloten, die hier, jetzt und in absehbarer Zukunft im gemeinsamen Interesse sein können.
Möglicherweise befinden wir uns seit Jahren in einer Ära, in der die Schäden an der Kultur und Infrastruktur internationaler Aushandlungsprozesse nahezu irreparabel beschädigt werden. Wenn diese Kultur einmal zerstört ist, kann sie nicht im Handumdrehen wiederbelebt werden. Die Erosion institutioneller Rahmenbedingungen – bezüglich Wirtschafts- aber auch bezüglich Friedens- und Sicherheitspolitik geht mit der Schwächung gemeinsamer mentaler Modelle einher. An ihre Stelle treten oft jene polarisierten Welt- und Feindbilder, die der US-Sozialpsychologe Joshua Greene mit stammesgebundenen Glaubensüberzeugungen unterschiedlicher “moral tribes” vergleicht, die in puncto Vertrauensbildung und Erarbeitung einer gemeinsamen Faktenbasis bei null anfangen müssten, sofern sie überhaupt miteinander ins Gespräch kommen. Dennoch müssen wir (im Sinn Blaise Pascals) darauf setzen, dass es trotzdem gelingt!
Über den Autor:
Prof. Dr. Richard Sturn, geboren 1956 in Bregenz, ist seit 2015 Leiter des Graz Schumpeter Centres der Universität Graz und Präsident der European Society of the History of Economic Thought. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Probleme der normativen Ökonomik, Ökonomie und Philosophie, Geschichte des ökonomischen Denkens, Institutionenökonomie sowie öffentliche Wirtschaft. Als Managing Editor gibt er das European Journal of the History of Economic Thought heraus sowie das Jahrbuch für normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik. Von 1997-2022 war er als Professor am Institut für Finanzwissenschaft der Uni Graz tätig, von 2017-21 Vorsitzender des Ausschusses Wirtschaftswissenschaften und Ethik des Vereins für Socialpolitik.
Hinweis:
Wie kann eine Gesellschaft aussehen die Frieden vorbereitet und lebt? Andererseits: Wie hängt Krieg mit pervertierten Formen von Politik und Ökonomie zusammen? Krieg den Hütten, Frieden den Palästen? Was hingegen sind Erfolgsmodelle und Bedingungen für Kulturen des Friedens? Das sind Fragen, mit denen wir uns in der Tagung “Ökonomien des Krieges – Kulturen des Friedens” vom 16.-18. Mai 2025 in der Evangelischen Akademie Tutzing beschäftigen werden. Richard Sturn wird als Kooperationspartner der Tagung ebenfalls dabei sein. Notieren Sie sich jetzt schon den Termin!
Wenn Sie weitere Informationen zur Veranstaltung erhalten möchten, können Sie sich über diesen Link via E-Mail informieren lassen.
Bild: Prof. Dr. Richard Sturn (Foto: Tzivanopoulos/Uni Graz)