EPD-Dokumentation “Unter Beobachtung”

Die eben erschienene Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes über die Stasi-Akte der Evangelischen Akademie Tutzing hat ganz besonderen Wert: Bislang unveröffentlichtes Material zeigt, warum und in welcher Weise sich der DDR-Geheimdienst für die Tutzinger Akademie und andere Evangelische Akademien interessiert hat.

Die Evangelischen Akademien – sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands – hielt die einstige DDR-Führung für “gefährlich”. So steht es unter anderem in der Akte, die die Staatssicherheit über die Evangelische Akademie Tutzing angelegt hatte. Sie war Thema der Abendveranstaltung “Unter Beobachtung: Akademiearbeit in den Augen der Stasi” mit Willi Stöhr, zu der die Akademie und ihr Freundeskreis 13. März 2024 eingeladen hatten.

Nun ist aus dem Vortrag und den Recherchen von Willi Stöhr, Pfarrer im Ruhestand, Freundeskreismitglied und früherer Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing, eine epd-Dokumentation erschienen. Der Titel “‘gefährlich und nur sehr schwer einzudämmen oder gar zu verhindern…’ Evangelische Akademiearbeit aus Sicht der Stasi” (Nr. 35/2024, 28 Seiten, Preis: 3,60 Euro, zum Link)

Die Dokumente, die vorliegen, belegen die Stasi-Beobachtung über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren, von 1957 bis 1989. Sie zeigen auch, wie sich der Blick des DDR-Geheimdienstes über diese Zeit veränderte.

Was erfährt man dabei über Arbeits-, Denk- und Überwachungsweisen von Diktaturen? Worin liegen Stärken von Demokratien und Gefahren für sie? Und warum ist evangelische Freiheit und Unabhängigkeit Voraussetzung von Akademiearbeit? Diesen Fragen ist Willi Stöhr nachgegangen. Er ordnet die Aufzeichnungen ein und setzt sie in Bezug zur Akademiegeschichte sowie zu den Zeitläuften beider deutscher Staaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Von 1983 bis 1991 war Willy Stöhr Studienleiter der Evangelischen Akademie Tutzing. Dabei pflegte er vielfältige Kontakte zu kirchlichen und staatlichen Stellen der DDR. Er schreibt: “Da ich als junger Vikar im grenznahen Gebiet in Neustadt bei Coburg eingesetzt war, führte dies bereits ab 1980 im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs zu ersten Kurzreisen in die DDR. Diese wurden in meiner Akademiezeit fortgeführt und bei Besuchen der Evangelischen Akademie Meißen, bei kirchlichen Gesprächspartnern in Dresden, Leipzig, Erfurt oder bei der Wittenberger Gruppe um Friedrich Schorlemmer vertieft. Erfahrungen beim Grenzübertritt in die DDR, bei Gesprächen in deren Ständiger Vertretung in Bonn oder bei Begegnungen mit Referenten aus der DDR bei Akademietagungen in Tutzing, legten den Schluss nahe, dass unsere Aktivitäten eifrig beobachtet und notiert wurden.” Gemeinsam mit dem heutigen Akademiedirektor Udo Hahn stellte Stöhr einen Antrag auf Einsicht in die Unterlagen der Staatssicherheit über die Evangelische Akademie Tutzing. Mehr als 400 Seiten an Aufzeichnungen erreichten daraufhin die Akademie und den heute pensionierten Studienleiter Stöhr: sowohl detaillierte Einschätzungen und Dokumente aus dem Tagungsbetrieb, Listen von Teilnehmenden, auf Millimeterpapier gezeichnete Grundrisse der Akademie, Mitschriften von Vorträgen – aber auch seitenweise Belanglosigkeiten.

Im Vorwort geht Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing, auch auf die Leerstellen der Stasi-Akten ein: „In den Stasiakten taucht Willi Stöhrs wichtigste Veranstaltung jedoch nicht auf: die paritätisch besetzte Konsultation am 30./31. Januar 1990, also kurz nach dem Fall der Mauer. In dieser diskutierten Bürgerrechtler der DDR wie Jens Reich, Konrad Weiß, der Dirigent Kurt Masur oder der Schriftsteller Günter de Bruyn mit bundesdeutschen Spitzenpolitikern wie Richard von Weizsäcker, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher oder dem Schriftsteller Günter Grass über “Neue Antworten auf die deutsche Frage”. Zur Vorbereitung dieser Tagung war Stöhr in der Ständigen Vertretung der DDR, die nach einigem Zögern ihre Beteiligung zusagte – nicht wissend, dass Ministerpräsident Modrow nach einem Treffen mit Gorbatschow just zum Zeitpunkt der Konsultation bekannt geben würde, dass Deutschland wieder ‘einig Vaterland aller Bürger Deutscher Nation’ werden soll. Das ist wohl der Grund, warum von dieser Tagung keine Stasiakten mehr angelegt wurden.”

Die Analyse der Stasiakten zeige, schreibt Udo Hahn, wie sehr die Evangelische Akademie Tutzing in Entwicklungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten involviert gewesen war. Mit diesem Engagement habe sie sicher “einen kleinen Teil dazu beigetragen, dass die Europäische Union heute von Portugal bis Polen reicht.”

Dorothea Grass

ZUM ÜBERBLICK

Folgende Inhalte der Stasi-Aufzeichnungen umfasst die EPD-Dokumentation:

  • Dossiers von 1957 über Evangelische Akademien in der BRD und DDR im Allgemeinen sowie über die Evangelische Akademie Tutzing im Besonderen und einem Extra-Abschnitt über den Politischen Club sowie ein gesondertes Dossier über die Sommertagung des Politischer Clubs vom 09. bis 19.7.1957 (mit einer Liste aller Teilnehmenden).
  • Studienmaterial der Hochschule Potsdam-Eiche (Lehrstuhl Spezialdisziplin) von 1958 mit dem Titel “Die staatsfeindliche Tätigkeit des Vatikans und der volksfeindlichen Elemente der katholischen und evangelischen Kirche gegen das Lager des Sozialismus” mit “Die staatsfeindliche Tätigkeit des Pfarrers Siegfried Schmutzler”.
  • Presseberichte über Tagungen der Evangelischen Akademie Tutzing von 1967 – 1989
  • Zwei Berichte von 1972 und 1973 über die Leiterkreise der Evangelischen Akademien
  • Berichte aus den Jahren 1981/1982 (in der Zeit der Nachrüstungsdebatte und “Schwerter zu Pflugscharen” in der DDR ) über den Jahresempfang der Akademie 1981, eine Reise der Evangelischen Akademie Tutzing nach Meiningen und Eisenach im Jahr 1982 sowie weitere Berichte über Gruppenreisen von Bürgerinnen und Bürgern der BRD in die DDR.
  •  Berichte aus Tagungen der Akademie 1983-85 während des KSZE-Prozesses, zum Beispiel über die „Sozialstruktur der DDR“, eine Tagung des Lutherischen Weltbundes in Tutzing mit Austauschpfarrern aus den USA, über den Politischer Club und die Tutzinger Materialien zum Thema “Zwei deutsche Staaten – ein deutscher Nationalismus?” sowie über die Tagung “40 Jahre nach Kriegsende – Ende einer Feindschaft?”, zu der Referierende aus der UdSSR, Polen, Frankreich, Österreichs, den Niederlanden, der DDR und der BRD eingeladen waren.
  • Stasiakten aus der Endphase der DDR (1986-1989) zu Kultur, Ökologie und Frieden mit Berichten zu einer Studienreise der Evangelischen Akademie Tutzing 1986 nach Brandenburg, der Mitschrift der Tutzinger Tagung: “Verantwortliche Energiepolitik” von 1987 und Notizen zu den Tutzinger Friedenstagen 1989.

Bild: Akademiedirektor Udo Hahn, Pfr. i.R. Willi Stöhr und Freundeskreisvorsitzende Brigitte Grande zeigen Dokumente aus den Stasi-Unterlagen über die Evangelische Akademie Tutzing. Aufnahme vom 13. März 2024 (Foto: dgr/eat archiv)

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