Anja Kampmann mit Kaschnitz-Preis ausgezeichnet

Die Lyrikerin und Prosa-Autorin hat am Sonntag, 2. Juni, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing erhalten. Laudatorin Miriam Zeh würdigte die Literaturpreisträgerin als jemanden, der “Worte zur Orientierung setzt, wo das Auge sich verliert.”

Anja Kampmann hat in einem Festakt am Sonntag, den 2. Juni 2024, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing entgegengenommen. Die 1983 in Hamburg geborene Schriftstellerin erhielt den renommierten Literaturpreis für ihr bisheriges Gesamtwerk.

Die Jury begründete ihre Wahl mit diesen Worten: “Sie wirft in ihren Texten Fragen auf, die uns alle angehen: Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Wie können wir überleben in einer Welt, in der unsere natürlichen Ressourcen ausgebeutet und unsere Landschaften systematisch zerstört werden? Sowohl in ihrer Prosa als auch in ihrer Lyrik liegt ein einzigartiger Zauber, an dem die Namensgeberin des Literaturpreises, Marie Luise Kaschnitz, ihre helle Freude hätte.

In ihrer Lyrik gibt Anja Kampmann in atmosphärisch dichten, klingenden, zum Leuchten gebrachten Bildern der Welt etwas zurück, was ihr endgültig abzugehen drohe: Schönheit. Über ihren Roman ‚Wie hoch die Wasser steigen‘ wird die gottverlassene Arbeitswelt auf einer Bohrinsel mit dem zerbrechlichen Klang der Welt verwoben, die Entfremdung moderner Arbeitsverhältnisse mit einem irisierenden Spiel der Erinnerung und der aus ihr entstehenden Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit und des Bleibens.”

“Das Risiko ist die Weite”

Zur Jury des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises gehören die Verlegerin und Leiterin des Literaturhauses München Tanja Graf, der Schriftsteller und Literaturkritiker Dr. Hajo Steinert, der Literaturvermittler und Experte für deutschsprachige Literatur Thomas Geiger sowie die Schriftstellerin Iris Wolff, die zuletzt den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis gewann. Er ist mit 7.500 Euro dotiert.

Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt die Literaturkritikerin Dr. Miriam Zeh (hier vollständigen Text abrufen). Sie entfaltete ihre Gedanken über das Werk Kampmanns anhand des Themas Risiko – angelehnt an das Gedicht “mittweida, im januar”. Dort heißt es:

“das risiko ist die weite, die über die felder kriecht
eine blaue bank vor dem bahnhofsgebäude, mit drahtbeinen
und einer sitzfläche aus einzelnen stangen plastik”

Kampmann stelle sich in ihrem Werk Risiken, vor denen sie nicht warne, so Zeh. Sie ging in ihrer Rede auf vier Risiken ein:  1. das Uferlose / die Weite, “die nicht mehr zu überschauen ist, die das menschliche Auge nicht zu erfassen vermag.”, 2. die historisch-politischen Tiefenschichten, die ihr Schreiben freilege, 3. den Menschen, der zwar die Weite nie in den Griff bekomme, aber schon überall gewaltsam seine Spuren hinterlassen habe, selbst in der Unendlichkeit des Meeres. Das vierte und letzte Risiko, dem sich Kampmann stelle, seien die Lesenden, “die sich ihre Gedichte und Romane zu eigen machen und die ‘Signale’ aus ihren Gedichten empfangen, wie es beim polnischen Dichter Adam Zagajewski heißt.” Kampmann gebe ihrem Publikum dabei Deutungshoheit und “Freiheit im Lesen, im Abwägen der Gefahren und Schönheiten.” Auch hierhin, in die Schönheit, so Zeh, wage sich Kampmann, “dem heutzutage vielleicht größten Risiko von allem”.

“Schreiben ist das Gegenteil von Angst”

Die Preisträgerin nahm die Auszeichnung mit sichtlicher Freude entgegen. Schon im Studium, so erzählte sie in ihrer Dankesrede (hier als kompletten Text lesen), habe sie das Werk von Marie Luise Kaschnitz begleitet. Kampmann sagte: “Marie Luise Kaschnitz schreibt über unsere Welt, verwandelt sie, manchmal scheinen es Entwürfe zu sein, Räume, die wir eröffnen können, sie sind nicht schwer, nicht voller Vorwurf, sie dürfen leuchten: und sind gefüllt mit Stimmen, Stimmen die uns herausfordern, die zwinkern, und anders auf die Welt schauen.”

Anja Kampmann berichtete von ihrem Finden in ihren Schaffensprozess mit der Analogie des Schwimmens: “Man schwimmt zu Beginn mit zu viel Kraft. Irgendwann versteht man, dass das Wasser einen trägt.” Kampmann erläuterte Schreiben als mutigen Prozess, als “das Gegenteil von Angst”, ein Herauswagen auf unbekanntes Terrain, bei dem es auch darum gehe, den eigenen Ton, die eigene Stimme und Sprache zu finden. Sie kam hier auf Walgesänge zu sprechen, die sogar ein eigenes Alphabet hätten, wie sie erst kürzlich gelesen habe. Für sie sei eine Sprache, die anfange, zu singen und auf mehreren Ebenen erzähle, „das mächtigste Instrument, um Boden zu wühlen oder uns diesen Boden unter den Füßen wegzuziehen. Wenn das geschieht, können wir vieles begreifen, ahnen, wie zerbrechlich wir sind wieviel Schönheit in der Verletzlichkeit vor uns liegt, wieviel Rebellion.“

Es sei die Liebe, so Kampmann, die es als einziges Sensorium erlaube, sich “in die Tiefe zu wagen, wirklich zu schwimmen und zu vertrauen. Wirklich hinzusehen und die Fratzen auszuhalten, die sich uns zeigen. Die wir einander zeigen. Hier, auf dieser Welt.”

Dreifaches Jubiläum des Literaturpreises

Die Verleihung des Preises war – wie üblich – eingebettet in eine Wochenendtagung, die sich ausführlich mit dem Werk der Künstlerin beschäftigte. Studienleiterin Alix Michell hing in ihrer Rede zur Verleihung des Preises (zur vollständigen Fassung) auf das Motiv des Meeres ein, das vielfach im Werk von Kampmann auftaucht, etwa im Gedicht “Versuch über das Meer” oder in ihrem Roman “Wie hoch die Wasser steigen” über eine Männerfreundschaft auf einer Ölbohrinsel. Alix Michell sagte: “Nun schreibt Anja Kampmann über weitaus mehr, als das Meer. Aber es taucht doch immer wieder auf. Es fungiert hier, wie auch in manch einem anderem Text der gebürtigen Hamburgerin, als exemplarischer Raum. Anhand dessen wird von Beziehungen, Machtverhältnissen, von Kapitalismus und Industrialisierung erzählt. Der Blick ist dabei immer klar, kritisch. Es ist ein Blick, der seine Grenzen kennt, weiß, dass das große Ganze, genau wie das Meer nicht zu fassen ist, dass Wahrheit im Detail gefunden werden kann.”

Akademiedirektor Udo Hahn betonte in seiner Begrüßungsrede (hier als kompletten Text abrufen) das Engagement für kulturelle Vielfalt der Akademie. “Vielfalt ist auch ein Ausdruck von Freiheit. Und für Freiheit müssen wir uns gemeinsam stark machen. Kultur braucht Freiheit – mehr denn je.”, so Hahn.

Die Verleihung des Literaturpreises an Anja Kampmann fiel zusammen mit einem dreifachen Jubiläum: 2024 jährt sich der Todestag der Schriftstellerin und Namensgeberin Marie Luise Kaschnitz zum 50. Mal, der Preis wurde vor 40 Jahren ins Leben gerufen und in diesem Jahr zum 20. Mal vergeben.

Dorothea Grass

Bild: Anja Kampmann in Tutzing (Foto: Haist / eat archiv)

Die Manuskripte der Preisverleihung 2024 finden Sie hier nochmal im Überblick:

  • “Ein eigenes Alphabet” Dankesrede von Anja Kampmann (zum PDF)
  • “das risiko ist die weite”- Laudatio auf Anja Kampmann von Miriam Zeh (zum PDF)
  • Begrüßung von Akademiedirektor Udo Hahn (zum PDF)
  • Begrüßung von Studienleiterin Alix Michell (zum PDF)
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