Historiker Portnov mahnt eigenständige Wahrnehmung der Ukraine an

“Ukrainische Stimmen fehlen in internationalen historiographischen Debatten noch immer”, schreibt der ukrainische Historiker und Publizist Andrii Portnov. Er sieht die Gefahr, dass die Ukraine weiterhin nicht als politische und kulturelle Einheit verstanden und dem Land wiederholt seine Daseinsberechtigung abgesprochen werden könnte.

Sowohl Russland als auch die Ukraine bedienen sich gegenwärtig postkolonialer Rhetoriken, schreibt Prof. Dr. Andrii Portnov. Damit meint er eine Rhetorik, die auf der historischen Besetzung der Ukraine durch Russland aufbaut.

Portnov, der die Professur für “Entangled History of Ukraine” an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) innehat, formulierte auf der eben beendeten Tagung “Dekolonialisierung in Mittel-, Ost- und Südeuropa” in Tutzing zehn Thesen zur (post-) kolonialen Situation der Ukraine im europäischen Kontext aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften. Die Thesen hat er in einem Gastbeitrag für die Evangelische Akademie Tutzing festgehalten.

Darin berücksichtigt der Historiker und Publizist auch die Geschichte des österreichischen und des deutschen Kolonialismus in Osteuropa. Noch immer besäße die Ukraine in weiten Teilen Deutschlands, sowie in der deutschen Politik der letzten Jahre „keine unbestrittene kulturelle und historische Handlungskompetenz“. Die deutsche Ukraine-Debatte sei außerdem von Narrativen geprägt, die ihren Ursprung in Putins Äußerungen haben, kritisiert Portnov weiter.

Auch in den internationalen historiographischen Debatten fehlten ukrainische Stimmen nach wie vor. Dazu zitiert Andrii Portnov seinen Historikerkollegen Hennadii Korolov vom Institut für Ukrainische Geschichte an der Harvard Universität: “Die Ukraine wird gewöhnlich als multiethnische und multireligiöse Region betrachtet, aber nicht als politische oder kulturelle Einheit. […] Ich befürchte, dass die Ukraine wieder als Laboratorium für die Neugestaltung der russischen und eurasischen Studien im Kontext der Dekolonialisierung behandelt wird, anstatt als Teil Ostmitteleuropas.” Das befürchtet auch Portnov und spricht sich für einen Wandel in der Wahrnehmung der Ukraine aus, die die kulturelle und politische Eigenständigkeit des Landes anerkennt.

Die Tagung “Dekolonialisierung in Mittel-, Ost- und Südeuropa” (26.-28. Juni 2023) war aus einer Kooperation mit der Projektgruppe “Mittel-, Ost- und Südosteuropa” der Bundeszentrale für politische Bildung und der Evangelischen Akademie Tutzing hervorgegangen.

Den kompletten Gastbeitrag von Andrii Portnov lesen Sie im Rotunde-Blog der Evangelischen Akademie Tutzing.

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