In Gefilde sich zu wagen, denen man mit Realismus nicht beikommen kann
“Für mich ist Literatur immer noch dieser große Freiheitsschritt, dass man sich in andere Figuren hineinversetzen darf, die weit von einem entfernt sind.” So beschrieb Sibylle Lewitscharoff einst, was das Schreiben für sie bedeutete. Die Schriftstellerin ist am 13. Mai im Alter von 69 Jahren verstorben. Ein Nachruf von Alix Michell
Wir gedenken einer begnadeten Schriftstellerin: Eine Schriftstellerin, deren Sprachgefühl, Humor und Chuzpe nicht nur in einem umfangreichen Œuvre verewigt sind, sondern auch vielfach ausgezeichnet wurden. So erhielt Sibylle Lewitscharoff – um nur wenige Beispiele zu nennen – 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2007 den Preis der Literaturhäuser und 2013 den Georg-Büchner-Preis. 2008 wurde ihr der 13. Marie Luise Kaschnitz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing verliehen, sodass auch wir uns der Schriftstellerin verbunden fühlen.
“Ihre Prosa zeichnet sich durch Formenreichtum, Sprachartistik und gedanklichen Reichtum aus”, hieß es damals in der Begründung der Jury. Die Laudatio hielt Andreas Nentwich, Autor und Essayist. Die Autorin und die von ihr geschaffenen Figuren rühmte er darin folgendermaßen: “Sie haben die Autorin etwas gekostet. Sie sind behaucht, beatmet, womöglich beseelt. Sie sind ins Leben entlassen, wie alle Geschöpfe. Und Ihre Schöpferin ist archaisch, anarchisch und analytisch. Ohne diese robuste Schöpferlaune würde sie keine Welt zustande bringen, die sich real anfühlt, bis in die Fingerspitzen, mit denen wir die Seiten umblättern.”
Es wird Ihnen aufgefallen sein, liebe Leserin, lieber Leser: Nentwich zog in seiner Laudatio nicht etwa den nahliegenden Vergleich der Realität von Fingerspitzen und Figuren, nein, er hob gleichsam die Grenze zwischen Lesenden und Gelesenem auf, lässt das Eine und das Andere miteinander verschmelzen. Ich bin fast sicher, Sibylle Lewitscharoff konnte sich über dieses Lob ihrer Arbeit freuen. Schließlich erklärte sie 2020 in einem Interview, das unter dem Titel “Quasselstrippe trifft Widerborst” vom Deutschlandfunk Kultur veröffentlicht wurde, es stehe ja genuin der Literatur zu, sich “in Gefilde sich zu wagen, denen man mit Realismus nicht beikommen kann.”
Die Berichterstattung zur Verleihung des Marie Luise Kaschnitz-Preises in den Tutzinger Blättern 2008 eröffnet mit einem vergleichbaren Zitat der Autorin: “Für mich ist Literatur immer noch dieser große Freiheitsschritt, dass man sich in andere Figuren hineinversetzen darf, die weit von einem entfernt sind.” Ein Zitat, das ebenso Neugierde wie Freude an der Fantasie offenbart. Ein gewisser literarischer Wagemut, den die Autorin mit Vorliebe in das Totenreich ausdehnte, mit dem sie sich ein ums andere Mal in ihren Texten beschäftigte.
Auch diesem dunklen Thema des Todes, das so manche:r gern meidet, wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser, widmete Lewitscharoff sich mit feinem und großem Humor.
Ihre Dankesrede schloss Sibylle Lewitscharoff in unseren Hallen damals mit folgenden Worten: “Wohl dem, der dabei wenigstens einen Anflug von Selbstironie zeigt, das Wissen um die eigene Fehlbarkeit gleichsam mit einem Augenzwinkern ins Publikum leitet.” Mit einem Augenzwinkern, das der oftmals verschmitzten Schwäbin und Wahlberlinerin so gut zu Gesichte stand, war es zwar nicht getan, als Lewitscharoff sich 2014 im Rahmen ihrer Dresdner Rede um Kopf und Kragen sprach. Unbestreitbar unangemessen in Wortwahl und Aussage zeigte sich hier eine Autorin, die die Kontroverse ebenso wenig scheut wie die Einsicht und die Bitte um Verzeihung im Angesicht der eigenen Fehlbarkeit. Nicht nur archaisch, anarchisch und analytisch also erinnern wir Sibylle Lewitscharoff, sondern auch kontrovers, komisch und fantasievoll.
Alix Michell
Studienleiterin für Kunst, Kultur, Digitales und Bildung
Bild: Sibylle Lewitscharoff, 2008 bei der Verleihung des Marie Luise Kaschnitz-Preses an der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: Schwanebeck)