Herausforderungen als Chance

Wie die Zukunft der Kirche gelingen kann beschrieb Dr. Annekathrin Preidel, Präsidentin der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in ihrem Vortrag am 10. Dezember 2022 in Tutzing im Rahmen unserer Tagung “Evangelische Kirche – wohin?”. Hier können Sie das vollständige Manuskript ihrer Rede nachlesen.

 

Sehr geehrter Herr Akademiedirektor, sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einladung zu einem Vortrag im Rahmen des Themenschwerpunkts zum Jubiläumsjahr der Akademie unter dem Titel “Vorausdenken”. Vorausdenken – das wird von uns als Kirchenleitung verlangt. Das ist unsere tägliche Übung, wenn wir unserer Verantwortung, diese Kirch ein die Zukunft zu führen, gerecht werden wollen. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen sind hinlänglich bekannt: Demographischer Wandel, Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft, Traditionsabbrüche und damit verbunden der Verlust der Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation, steigende Austrittszahlen, Nachwuchsmangel und die Aufarbeitung von Missbrauch. Wir stehen an der Schwelle zu einer Zeitenwende. Wir spüren, wie stark und wie schnell sich die Welt verändert. Die Komplexität der Prozesse auf den verschiedenen Ebenen löst Unsicherheit aus. Und diese hat Rückwirkung auf unsere Kirche, denn Kirche ist immer Kirche in der Welt.

Ich gliedere meinen Vortrag in drei Teile:

  1. Herausforderungen aus persönlicher Perspektive
  2. Herausforderungen aus kirchenleitender Perspektive
  3. Zukunftschancen

Ich bin weder Expertin für Zukunftsantworten noch gelingt es mir, durch einen Blick in die Glaskugel vorauszusagen, wie unsere Kirche 2060 aussehen wird. Ich weiß es schlichtweg nicht, aber ich sehe in den Herausforderungen, vor denen wir stehen, Möglichkeiten und Chancen. Ich vertraue darauf, dass unserer Kirche eine Zukunft verheißen ist! Und das nicht aus einem übersteigerten, blauäugigen Optimismus, sondern weil ichversuche, verschiedene Blickrichtungen einzunehmen. Diese möchte ich mit Ihnen in meinem Vortrag teilen, ohne zu verschweigen, dass ich in diesen Tagen ein kleines, ganz persönliches Jubiläum feiere, und dass ich es gerade hier in Tutzing im Rahmen einer Tagung zur Zukunft unserer Kirche tue, ist für mich eine besondere Fügung: Vor genau 20 Jahren wurde ich – nachdem ich mich zuvor sehr frei und kreativehrenamtlich in der Kirche in Kindergottesdienst, Konfirmandenkursen und ökumenischen Projekten engagiert hatte, – in den Kirchenvorstand meiner Heimatgemeinde und zugleich als Frauenbeauftragte meines Dekanats gewählt. So lernte ich meine Kirche erstmals von ihrer Organisationsstruktur her kennen –und das gleich auf zwei Ebenen. Aus der Idee mitzugestalten und Verantwortung zu übernehmen wurden 20 Jahre, in denen ich mich – spätestens mit der Wahl in die Landessynode, dann aber auch in die EKD-Synode und in die VELKD-Generalsynode schwerpunktmäßig mit der Zukunft der Kirche resp. der Kirche der Zukunft befasste und so das kleine und das große Einmaleins der Gremienarbeit und Kirchenleitung unserer Landeskirche kennenlernte. Ich hatte dabei den Anspruch an mich selbst, dass mir meine Kreativität und Begeisterung im Engagement für unsere Kirche durch die Erdenschwere der Gremienarbeit nicht abhandenkommen.

Hinter meiner Motivation, Kirche nicht nur in meiner kleinen Kirchengemeinde, sondern auch auf der Ebene der Landeskirche mit zu gestalten, standen grundlegende Fragen:

  • Wie können wir in einer spirituell immer bedürftiger werdenden Gesellschaft vom Evangelium Jesu so reden, dass wir die Menschen mit der frohen Botschaft erreichen?
  • Wie kann unsere Kirche Orientierungshilfen in einer immer komplexer werdenden Welt geben?
  • Wie kann sich unsere Kirche aufstellen, um die Relevanz für das Leben der Menschen neu zu gewinnen?
  • Wie kann eine Kirche aussehen, die sich in den weiten Raum der Hoffnung auf das Reich Gottes hineinstellt und in der die Zukunft des Reiches Gottes zum Vorscheinkommt? Was vermittelt eine solche Kirche in der heutigen Zeit?
  • Wie kann man eine in jahrtausendealter Tradition verwurzelte Organisation zum Aufbruch bewegen? Wie bekommen wir – so das Motto der Zukunftskonferenz der Kirchenleitung hier in Tutzing in diesem Sommer – „das Ding zum Fliegen“? „Das Ding“ – das ist unsere schwerfällige, behäbige Kirche.

Diese Fragen begleiteten mich in den drei Phasen der 20 Jahre meiner Gremienarbeit, von denen ich Ihnen kurz berichten möchte.

Phase 1: Butterbrezeln und bunte Punkte
Oder: Die große Ernüchterung

In der Phase von ca. 2002 bis 2010 wurde die Frage nach der Zukunft der Kirche eher verdrängt, die Kirchensteuereinnahmensprudelten trotz Mitgliederrückgang auf Grund der guten Konjunkturlage und gaukelten Prognosen vor, von denen wir heute wissen, dass sie unrealistisch waren. Die Idee der Vorsteuerung, d.h. des Entkoppelns der Ausgaben von den Einnahmen, um zusätzliche Mehreinnahmen zur Abfederung für die Zukunft zu verwenden, war noch nicht geboren, eine mittelfristige Finanzplanung ebenfalls noch nicht, nur die Landesstellenplanung ließ bereits ahnen, dass sich etwas ändern muss.

Landeskirchenweite Beteiligung an inhaltlichen Themen war stark von sozialwissenschaftlichen Konzepten der 1970er Jahre geprägt und bestand zumindest, was die Steuerung der Dekanatsfrauenarbeit anbelangte, 2002 darin, dass man sich jeweils in den Gremien oder auch zentral zu einem Thematraf. Es gab Kaffee, Tee und Butterbrezeln in Hülle und Fülle, und man ging nicht auseinander, ohne an eine Wand zu vorgegebenen Thesen bunte Punkte zu kleben. So sah Partizipation aus, so wurden Meinungen abgefragt, Prioritäten sichtbargemacht, so wurde quasi gleichberechtigt abgestimmt. Man war beschäftigt. Selten hörte man, was mit den bunten Punkten geschah, bestenfalls landeten sie in einem Fotoprotokoll und dann in einer wie auch immer geformten Ablage. Für mich, die ich im weltlichen Bereich in der Organisationsentwicklung tätig war, war dies höchst unbefriedigend. Zu viel Zeit und zu viel Geld für zu wenig Zielorientierung und zu wenig Konkretion. Zu wenig Wahrnehmung des weltlichen Alltagsgeschehens der Menschen! Und vor allem zu wenig Zutrauen in die Verantwortung von Ehrenamtlichen. Die große Ernüchterung: Mein eigentlicher Erfahrungshorizont war überhaupt nicht gefragt, sondern ging unter im bunten Punktebad. Ich will nicht so weitgehen, zu sagen, dass allein dies für mich eine Herausforderung war, die mich irgendwann ins Präsidium der VELKD- und später in der ELKB-Synode führte, aber ein gewisser Ehrgeizaus meiner Unzufriedenheit heraus beflügelt mich seitdem. Ausmeiner Sicht musste sich schon vor 20 Jahren etwas ändern. Denn schon damals galt das, was für jede Organisation –nicht nur für Kirche – gilt: In Zeiten, in denen sich die Kontexte, in denen wir leben, sehr schnell verändern, muss eine Organisation sich an zukünftigen Herausforderungen orientieren und Spielräume für langfristige Entwicklungen öffnen, um nicht im Modus der permanent lähmenden Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit zu versinken.

Phase 2: Profil und Konzentration

Bewegung spürte ich auf dem Weg zum Reformationsjubiläum2017. Die Frage nach der Zukunft der Kirche rückte mehr in den Fokus und damit auch die Frage, ob oder inwiefern es so weitergehen kann wie bisher. Und so nutzte ich ab 2014die Möglichkeiten, die das Amt einer Präsidentin der Landessynode und die zeitgleiche Neubesetzung der Stelle des Planungsreferenten der ELKB mit sich brachten, um Innovationen anzuregen und mitzugestalten. „Profil und Konzentration“ wurde geboren. Den Weg zum Reformationsjubiläum 2017 nutzten wir als die Chance, um einen Zukunftsprozess auf den Weg zu bringen. Er mündete in die Beschlüsse der Coburger Synode2017, mit denen…

Phase 3: Umsetzung von Profil und Konzentration

… der Transformationsprozess unserer Landeskirche eingeleitet wurde, in dessen Umsetzung wir uns aktuell befinden und der ein Aufbruch derer ist, die nicht im Alten verharren wollen: weg von den vielen Verwaltungshürden und Selbstbeschäftigungen, hin zur Orientierung am Menschen in der Kirche Jesu Christi: die Umsetzung der Landesstellenplanung mit der Möglichkeit von Pfarreibildungen, Möglichkeiten des Erprobens und Ausprobierens, wie es durch die m.u.t-Projekte derzeit erfolgt, eine neue Wahrnehmung der Ehrenamtlichen Arbeit, die Neubesinnung auf das Pfarramt, Verkauf oder Umwidmung von Gebäuden, Identifizierung von Doppel- und Dreifachstrukturen und das Nutzen von Synergien. Vom „Alle machen alles und bieten überall dasselbe an“ hin zu Angeboten, die speziell an die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen an ihren Orten angepasst sind. Dies gilt auch und erst recht für die Beteiligung von Betroffenen von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche, weg von einer Abfertigung und statistischen Erfassung hin zu echter Partizipation und Mitgestaltung. Wir lernen voneinander und entwickeln uns gemeinsam!

Doch treten wir noch einmal einen Schritt zurück: Zukunft passiert nicht einfach, Zukunft will gestaltet sein. Es liegt an uns, wie unsere Zukunft aussieht. Man kann sich ihr auf zwei Weisen nähern:

  • zum einen rational, funktional und vorausberechnend. Dies mündet in Prognosen,
  • zum anderen fantasierend und fasziniert über Visionen und Utopien.

Vielleicht wählte die Synode 2014 ganz bewusst eine Biologin in das Präsidium, die von beidem Wissen hat, von der statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnung und von der Einordnung der Erkenntnisse der Neurologie im Blick auf die Neuordnung der Synapsen, durch die der Mensch das Neue in sich selbstproduziert und so in die Lage versetzt wird, seine Sichtweisen auf die Welt immer wieder neu zu justieren. Beide Perspektivenüber Prognosen oder Utopien haben Vor- und Nachteile. Nähert man sich der Zukunft über die statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung an, nutzt und interpretiert man Daten, dann entwirft man auf deren Basis Modelle und entwickelt daraus Trends. Diese liefern Hilfestellungen für Entscheidungsoptionen, allerdings nur dann, wenn man die Daten nicht einfach nur anhäuft. Die Gefahr der Entscheidungslähmung – Paralyse durch Analyse – kann auch zu endlosen Diskussionsschleifenüber die Vor- und Nachteile der Optionen führen und konsequentes Handeln blockieren.

Nähert man sich der Zukunft durch Anregung von Fantasie und Emotionen, dann entwirft man quasi eine fiktive Zukunft, Science-Fiction arbeitet so. Man mag diese Methode als den Landeplatz für Ideen im Wolkenkuckucksheim abtun, aber wer keine Bilder des Neuen vor Augen hat, wird das Neue nichterkennen können. Wem die Fantasie und der Sinn für Bildereiner ganz anderen Wirklichkeit fehlen, wird das Neue nichtsehen. Zukunftsvisionen haben Sinn, weil sie uns inspirieren und weil sie uns – so utopisch sie sein mögen – den Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, vor Augen führen und unsere Sinne für die Zukunft wecken. So auch das Bild einer Kirche, die abhebt und fliegt!

Auch die Bibel ist voll von Zukunftsbildern. Sie nähert sich der Zukunft über eine weitere Dimension an – über den zukünftigen Ereignisraum als Raum der Sehnsucht und der Hoffnung, in dem wir empfangen, was auf uns zukommt – unvorhersehbar, überraschend. Wenn wir geleitet von den Hoffnungsbildern der Bibel über Herausforderungen als Chance nachdenken, dann rechnen wir mit Gott. Wir fragen, wie eine Kirche aussehen würde, in der die Zukunft des Reiches Gottes zum Vorschein kommt. Und wir fragen, was eine solche Kirche vermittelt. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirche weniger Organisation, sondern vielmehr Vermittlerin zwischen der Welt und einem Reich sein muss, das nicht von dieser Welt ist. Das Reich Gottes, diese gerechte, gute und lebenswerte Welt Gottes und seiner Menschen, ist ja in vielen verschiedenen Versuchen anders zu leben, anders zu wirtschaften, anders zu handeln, anders zu denken, schon heute sichtbar. Es prägt wie ein Wasserzeichen des christlichen Glaubens das Handelnder Menschen, die Jesus nachfolgen, und macht deutlich, dass die Vision einer Kirche der Zukunft sich nicht auf eine Idee für eine ferne Zukunft, die wir alle nicht mehr erleben, reduziert. Sie reduziert sich auch nicht auf eine Utopie, die wir allenfalls imaginieren. Nein, das Reich Gottes ist mitten unter uns. Seine Lichtstrahlen kommen durch die Textur unserer Gegenwart hindurch zum Vorschein. Sie setzen den Kräften der Eigennützigkeit, der Gleichgültigkeit und der Ungerechtigkeit in dieser Welt etwas entgegen. Sie machen sensibel für Orte, an denen das Reich Gottes bereits jetzt überraschend durchschimmert. In genau dieser Spannung zwischen der Welt, wie sie ist mit all ihren Zerrissenheiten, Krisenerfahrungen und Sorgen, und dem Reich Gottes, das mitten in den Erschütterungen aufscheint, leben wir. Diese Ambivalenz leitet zentral unser christliches Handeln. Diese Ambivalenz macht unser Handeln – auch unser kirchenleitendes Handeln – nicht leichter, aber sie stärkt uns mit einer Kraft und einer Hoffnung, die Mut macht für die Zukunft. Sie gibt uns die Zuversicht, Möglichkeiten und Chancen, die entdeckt werden wollen, tatsächlich zu entdecken.

Wenn wir von dieser Perspektive geleitet von Hoffnungsbildern der Bibel von Herausforderungen als Chance sprechen, dann haben wir etwas zu sagen, das uns von anderen unterscheidet. Wir können von Gott erzählen, der selbst ein Gott der Veränderung ist. Er fordert zu Veränderung auf und begleitet in der Veränderung. Ebenso wie Jesus von Nazareth. Er erzählte den Menschen immer wieder vom Reich Gottes, breitete vor ihnen seinen großen Traum aus, weckte in den Menschen eine neue Hoffnung und veränderte so den Gang der Dinge. Erforderte Menschen in seiner Nachfolge auf, alte Sicherheiten hinter sich zu lassen und Gewohntes aufzugeben und machte damit deutlich: der Anbruch von Gottes neuer Welt erfordert das Zerbrechen alter Ordnungen, um neue Räume zu öffnen für das überraschende Handeln Gottes. Nun ist das Reich Gottes nicht die Kirche, aber als Kirche bauen wir mit an seinem Reich.

Die positiven Erfahrungen aus unserer Kirchengeschichte geben uns Mut und Gelassenheit inmitten der Herausforderungen, denn vor etwa einhundert Jahren, vor etwa fünfhundert Jahren und vor etwa zweitausend Jahren war die christliche Theologie Initiatorin, Mitinitiatorin, Deuterin und Mitgestalterin von Epochenschwellen und kulturellen Paradigmenwechseln. Jesus, der Rabbi aus Nazareth, Paulus, der Vordenker und Systematiker des christlichen Glaubens, Augustinus, einer der einfluss11reichsten Theologen der christlichen Spätantike, Thomas von Aquin, der wichtigste Theologe des Hochmittelalters, Martin Luther, der Reformator, Friedrich Schleiermacher, der Kirchenvater der Moderne, Karl Barth und Rudolf Otto, die theologischen Seismografen des Ersten Weltkriegs, Dietrich Bonhoeffer, der Mann in der Zelle von Tegel – sie alle transformierten Umbrüche in Aufbrüche. Sie alle lebten, dachten und glaubten so gegen Krisen an, dass es ihnen gelang, diese als Keimzellenvisionärer theologischer Neuanfänge zu begreifen. Ihnen allen wuchs die Kraft der Metanoia zu – also des Umdenkens des Gewohnten. Sie alle hatten als Kinder ihrer Zeit die Kraft, ihre Zeit in Ideen zu fassen und über sich hinaus zu treiben.

Wenn wir uns also mit den Herausforderungen befassen und sie als Chancen entdecken wollen, dann sollten wir uns nicht in Rückwärtsträume flüchten, nicht jammern und wehklagen über verlorene Marktanteile, leere Kirchen oder öffentlichen Bedeutungsverlust, sondern das tun, was unser Auftrag und unsere Chance als Christen und Christinnen ist: An der Gestaltung einer Welt mitarbeiten, in der wir gerne leben wollen, Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft benennen, uns um die Not der Menschen kümmern, mit der anarchischen Leidenschaft der Liebenden, die geheimnisvolle Kräfte mobilisiert, einen Überfluss an Ideen produziert und umsetzt.

Und wir sollten auch unser Kirchenbild auf den Prüfstand stellen. Sind wir als Kirche eine Organisation, die sich lediglich um ihre Mitglieder kümmert, die denen, die dabei sind und die sich engagieren, bestimmte Dienste und Wegbegleitung liefert? Dann würden wir keinen Unterschied machen. Oder gehen wir als Kirche über den Kreis der Mitglieder hinaus? Sind wir dafür Menschen, die uns brauchen, egal, ob sie durch die Kirchensteuerfinanziell solidarisch sind mit dem, was wir tun, oder nicht, egal, ob sie in den Gottesdienst kommen oder nicht? Sind wir bedingungslos da, wo Begleitung, wo Hilfe, wo Gespräch, wo Segen und Seelsorge, wo Trost und Begleitung gebraucht werden oder ist das an Voraussetzungen und Bedingungengeknüpft – Kirchensteuer gegen Segenshandlungen?

Das Z-Team der EKD hat zwölf Leitsätze für die Zukunft der Kirche formuliert hin zu neuen kirchlichen Sozialformen, die den Kontakt mit dem Evangelium für möglichst viele Menschen aller Generationen bahnen und fördern. Ein Vers aus dem Dankpsalm Davids steht als Leitmotiv über den Zukunftsimpulsen der EKD. Es lautet: „Hinaus ins Weite“. Der Weg unserer Kirche in die Zukunft gelingt, wenn wir ihn mit Weitsicht, mit Mut und mit Gottvertrauen gehen. Das Z-Team benennt klar, was dies bedeutet und worum es auch in unserem Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“ geht: Offenheit, nicht Rückzug, Aufbruch zu Neuem. Stärkung von Bewährtem und Abschied von Vertrautem. Vernetzung und Bereitschaft für gelingende Zusammenarbeit der Kirchengemeinden im Sozialraum als Form der gelebten Partizipation und Teilhabe.

Die Zukunft unserer Kirche wird von Menschen leben, die in der Kraft des göttlichen Geistes voller Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen auf Gottes Führung Kirche sein wollen. Sie wird von Menschen leben, die einander annehmen und mitnehmen auf Wege der Freiheit und des Glaubens. Sie wird von Menschenleben, die eine lebendige Vorstellung geben von Gottes Möglichkeiten in dieser Welt, die barmherzig sind, die für das Gute in der Welt kämpfen.

Wie kann es gelingen, dass wir uns nicht von den negativen Zukunftsszenarien und von der Angst vor der Zukunft leiten lassen, sondern bei der intensiven Suche nach Orientierungen und Konzepten für die Zukunft der Kirche Möglichkeitsräume schaffen?

Für mich waren hier die Reisen mit dem Landesbischof nach Südostasien und vor allem Mittelamerika besonders eindrücklich. Ich sehe diese Erfahrungen in der Begegnung mit dem Fremden, die ich auf diese Weise machen konnte, unter der Überschrift: Take a walk on the wild side! Denn es war tatsächlich eine Begegnung im tropischen Regenwald, die mir die Augen dafür öffnete, wie einfach Kirche auch gelebt werden kann. In Costa Rica waren wir mitten in der Natur von einer Familie in ihre Holzhütte eingeladen. Von den vier Hühnern, die sie besaß, pickten drei auf dem Lehmboden unter dem Esstisch. Das vierte wurde als Festmahl in einem großen Topf mit allerleiunbekannten Zutaten für uns als Ehrengäste serviert, während uns die gastgebende Familie von der neuen mitten im Regenwald errichteten Kirche berichtete. Die Kirche, ein sehr schlichtes Gebäude, wurde mit finanzieller Unterstützung der ELKB gebaut und wird als eine große Kostbarkeit gepflegt. Kein Prachtbau, aber ein Ort und Ankerplatz, der den Menschenheilig ist, der ihnen geistlichen Schutz bietet, ein Hoff14nungsort. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, die deutlichmachen: Die Reisen mit dem Landesbischof brachten mein Weltbild ins Wanken und justierten meinen Blick auf unsere Kirche neu. Sie führten mir vor Augen, dass das, was wir hier für die Wirklichkeit halten, immer nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit ist und vielleicht nicht einmal der entscheidende. Sie lehrten mich, dass das vermeintlich Allzuselbstverständliche nicht selbstverständlich ist. Sie machten mir deutlich, dass es hilfreich ist, in die Nöte und Hoffnungen anderer Menschenunter anderen Lebensbedingungen zu schlüpfen, um neue Sichtweisen zu entwickeln. Gerade jetzt im Rückblick auf die letzten zwei Jahre der Coronapandemie wurde mir deutlich, dass das, was wir durch Covid 19 zwei Jahre lang als Jahrhundertkatastrophe wahrgenommen haben, für Milliarden von Menschen auf der Welt Alltag ist. Das Gefühl permanenter Bedrohung, Einschränkung und Unfreiheit, die Atmosphäre ständiger Unsicherheit, die Unmöglichkeit, langfristig zu planen, die dauernde Gefahr schwer zu erkranken oder zu sterben hat in der Begegnung mit Christ:innen in der Einen Welt meinen Erfahrungshorizontgeprägt. Krankenhäuser, in denen es nichtgenug oder keine Intensivbetten gibt. Regierungen, die überfordert oder korrupt sind. Kinder, die nicht in die Schule gehen können, aber auch kein Notebook für den digitalen Fernunterricht haben und die auf der anderen Seite ja sowieso bei der Ernte helfen müssen. Es hat sich in der Zeit des Lockdowns der Coronapandemie gezeigt, dass wir Menschen der westlichen Welt nach Jahrzehnten der Stabilität und Sicherheit verlernt ha15ben, wie man Krisen begegnet, nämlich nicht hysterisch oderdurch lustvolles Zeigen mit dem Finger auf Sündenböcke, sondern eher kraftvoll widerständig und würdevoll – aus dem Evangelium heraus. Nirgends sind mir so viele Lutherrosen begegnet wie in den christlichen Gemeinden in Mittelamerika und Südostasien. Schon in den Kindergärten lernen die Kinder sie von klein auf als Symbol für lutherisches Selbstbewusstsein kennen. Wenn es also um die Herausforderung geht, unsere Kirche hier in Bayern in die Zukunft zu führen, dann sollten wir die Lutherrose auch bei uns als “evangelisches Markenzeichen “neu entdecken. Gesellschaftliche Verantwortung der Christ:innen und Vergewisserung im Glauben müssen stärker Hand in Hand gehen und als Kraftquelle neu sichtbar gemacht werden. Wir sollten den empfundenen Bedeutungsverlust nichtkontrolliert in Strukturen gießen, sondern Platz für die Entfaltungsmöglichkeiten des Evangeliums schaffen.

Wo liegen die Chancen für unsere Kirche konkret?
Die Chance des Perspektivwechsels

Spätestens seit der Freiburger Studie 2019 pfeifen es die Spatzen von den Dächern: die christlichen Kirchen sind in der Krise. Nun ist eine Krise per se nicht das Schlechteste. Sie ist dann nicht das Schlechteste, wenn wir ihr nicht mit Angstbegegnen, sondern in ihr Entscheidungssituationen wahrnehmen. Dominieren Angstgefühle und existentielle Unsicherheiten – odererfahren wir Krisenzeiten als Zeiten, in denen Widerstandskräftewachsen? Ziehen wir uns in unsere Schneckenhäuser zurück, stecken wir nach der Vogel-Strauß-Taktik den Kopf in den Sand, frei nach dem Motto: Was ich nicht sehen kann, existiert nicht? Reagieren wir mit Jammern und Klagen? Oder sehen wir Krisen als Zeiten der Weiterentwicklung und der Veränderung, des Umbruchs und des Aufbruchs, in denen Neues entsteht?

Krisen als Entscheidungssituationen zu sehen, Weggabelungen vor Augen zu haben für verschiedene Richtungen, in die man gehen kann, das gelingt nur, wenn man furchtlos ist. Wir haben das schmerzvoll während der Pandemie erfahren. So war auch Covid zunächst nicht der Innovationsbeschleuniger – im Gegenteil. Die Pandemie lähmte. Sie stellte alles auf den Kopf, änderte über Nacht Rhythmen, Denkmuster und Routinen. Wir waren zurückgeworfen auf uns selbst. Gefangen in der Ungewissheit lebten wir zunächst mit dem Tunnelblick auf eine Zukunft, die ad hoc völlig offen und ohne Konturen war. Erst nach und nach erwuchs aus der Situation der Pandemie ein Lernprozess. Erst nach und nach veränderten sich aus der Krisensituation die Blickrichtung und die Erkenntnis, dass die Dekonstruktion der Gegenwart – so schmerzlich diese auch ist– Ideen für eine neue Zukunft erzeugen kann. Wir lernten in den Monaten des Stillstands und der Zwangsentschleunigung eine neue Freiheit, nämlich buchstäblich mit Abstand auf die Organisationsabläufe und auch auf unseren Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“ zu schauen und noch einmal neu zu fragen, was die Menschen von unserer Kirche wirklich erwarten. Wir waren gezwungen auf Distanz zu gehen, nicht nur zu den Menschen, sondern auch mit Abstand auf uns, unser Leben, unsere Hamsterräder, auf das vermeintlich Selbstverständliche und Gewohnte zu sehen. Und darin lag zugleich die Chance, auch für die Kirchenleitung. Plötzlich musste völlig anders geplant werden, völlig anders organisiert werden. Die Konstituierung der Landessynode fand nicht wie gewohnt in der Bayreuther Stadtkirche statt, sondern an der Autobahn A3 im Eventcentrum mit angegliederter Autobahnkirche der Familie Strohofer. Ganz nach dem Motto: „Take a walk on the virtual side!“ erkannte sie im abrupten Stillstand durch den Lockdown neue Möglichkeiten im virtuellen Raum. Durch die Einführung digitaler Sitzungsformate entfiel aufwendiges Reisen, das Ehrenamt war wesentlich besser organisierbar. Die Chancen, die wir gerade auch im Digitalen identifiziert hatten für eine Weiterentwicklung unserer Kirche, für deren Umsetzung uns aber der Mut fehlte, wurden jetzt greifbarer. Damit gelang es uns während der Pandemie auch in der Landessynode unsere kirchenleitende Verantwortung wahrzunehmen, und gleichzeitig den Zukunftsprozessunserer Landeskirche mit neuen Ideen für weitreichende Veränderungen weiterzuentwickeln. In der Weiterentwicklung der Ideen der Zukunftskonferenz in diesem Sommer hierin Tutzing lagen nun vor zwei Wochen bei der Tagung der Landessynode die ersten Gesetze und Eckpunkte zur Beschlussfassung vor, durch die die Leitungsstrukturen auf allen Ebenen unserer Landeskirche den veränderten Verhältnissen angepasst werden. „Das Ding“ fliegt noch nicht, aber es nimmt auf der Startbahn Fahrt auf und gewinnt langsam an Flughöhe.

Die Chance vom Auftrag her zu denken

Unser Auftrag ist es, die frohe Botschaft von Gottes uneingeschränkter Liebe und Gnade weiterzugeben, dafür sollten die Kirchentüren und -fenster sperrangelweit offenstehen – für und mit anderen, für alle, die uns suchen und für alle, die uns brauchen. Wenn die Kirche sich wieder auf ihr Alleinstellungsmerkmal, die Frohe Botschaft, konzentriert und ihren reichengeistlichen Schatz neu zum Leuchten bringt, kann sie nur gewinnen. Wenn sie die alten Texte und Rituale aktualisiert, auf unsere Zeit hin deutet, dann kann ihr tradierter Gehaltwieder neu entdeckt werden. Wenn sie nah bei den Sorgen und Nöten der Menschen ist, ihnen zuhört, für sie da ist, sie ernst nimmt und sie tröstet, dann ist Hoffnung kein leeres Wort. Wir haben uns in dem Zukunftsprozess unserer Landeskirche zunächst nicht mit strukturellen Fragen und Fragen der Neu-Organisation befasst, sondern wir haben nach unserem Auftrag gefragt. Wir haben Antworten auf die Frage gesucht, die Jesus dem blinden Bartimäus stellt: Was willst Du, das ich für dich tue? Bereits in den 2010er Jahren hatten wir mit denf.i.t.-Projekten in unserer Landeskirche dazu Erfahrungen gesammelt.f.i.t. steht für „fördern, initiativ werden, teilhaben“. Mit diesem Programm wurden diakonische Projekte gefördert, die im Dekanat und in den Sozialraum vernetzt Menschen in Altersarmut und Alleinerziehende, Jugendliche und Migranten in den Blick nahmen, um diese gezielt zu unterstützen. Daraus entstanden 60 interessante Projekte, aus denen zum Beispiel die Vesperkirchen hervorgingen. In meiner Nachbargemeindeentwickelte sich ein kleines diakonisches Projekt für Menschen in Armut zu einem großen ökumenischen Netzwerk, das mit der Grundschule, mit Projekten im Sozialraum und mit Kulturveranstaltungen, von vielen Ehrenamtlichen getragen ein großer Erfolg war und ist. Selbst Menschen, die durch das Projektunterstützt wurden, arbeiteten am Ende ehrenamtlich in dem Projekt mit – ein Empowerment, das den Menschen neue Möglichkeiten aufzeigte, über das eigene Leben bestimmen zu können, und diese auch behutsam begleitend umsetzte. Aktuell hat sich innerhalb dieses Projekts, das seit über zehn Jahren ein bewegliches Netzwerk ist, z.B. ein Smartphone-Kurs entwickelt. Ältere Menschen erhalten eine Einführung und Unterstützung beim Nutzen ihres Smartphones und Tablets per Hausbesuch über die Kirchengemeinde. Vor zwei Jahren haben wir ein weiteres Vernetzungsprojekt gestartet: m.u.t.– missional –ungewöhnlich – im Tandem – ein ähnlicher vernetzter Projektaufbau, aber hier steht der missionale Aspekt im Vordergrund.m.u.t und f.i.t. – beide Projektprogramme bringen zum Ausdruck, was tief in die DNA unseres Glaubens eingegraben ist: Gott ist ein Gott der Veränderung, der zu Veränderung aufruft, der mitgeht, und der da ist, wo immer wir ihm in unserer Mitte Raum geben. Die größte Hürde die wir von Anfang an identifiziert hatten, fällt uns allerdings noch sehr schwer: die Chance zu sehen, die im Loslassen liegt.

Die Chance des Loslassens

Wir alle wissen: es sind die Routinen und Gewohnheiten, die uns oftmals den Blick für Neuerungen verstellen. Sie habeneine magische Anziehungskraft, weil sie es ermöglichen, dass Prozesse ohne viel Nachdenken quasi automatisch laufen. Mitsolchen Routinen bewältigen wir unseren Alltag und lassen dabei außer Acht, dass Routinen auch lähmen können und Dynamikverhindern. Um dynamisch zu bleiben, brauchen wir Störungen des Normalbetriebs, Erschütterungen, so wie die öffentliche Aufdeckung von Missbrauch die Grundfesten der Kirche seit Anfang der 2000er zum Beben brachte und immer noch bringt. Solche Unterbrechungen, das Hinterfragen von Abläufen brechen Muster auf und rütteln wach. Es gilt loszulassen, um nicht in der Dauerschleife liebgewonnener Traditionen und Gewohnheiten gefangen zu bleiben, blind zu werden und den toten Winkel außer Acht zu lassen. Es stellt sich doch die Frage: Wie kommt die Störung sinnvoll in die Organisation? Das ist Führungsaufgabe, genauso wie es Führungsaufgabe ist, Beharrungsenergien zu identifizieren und den Veränderungswillen zu befördern. Es sollte nicht gleich eine Pandemie sein, die als Störfaktor Veränderungen beschleunigt. Aber letztendlich war es doch das Coronavirus, das uns geholfen hat, noch einmalgenauer auf die Prozesse zu schauen. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirche nicht weniger wird, wenn wir uns in der Kunst des Loslassens und des Weglassens üben. Abschiede vom Alten gehören dazu, um dem Neuen zu begegnen –ganz im Sinne des Propheten Jesaja: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige“, sagt Gott dort. „Denn siehe, ich will Neues schaffen. Jetzt wächst es auf. Erkennt ihr‘s denn nicht?“ Es geht darum, die Scheuklappenabzulegen. Es geht darum, sich zu trauen dem Status Quo und dem oft als ausweichendem Argument hervorgebrachten Mantra bewährter Abläufe „Das haben wir schon immer so gemacht“ eine klare Absage zu erteilen, unsere Denkfesseln durch das Einkehren neuer und frischer Gedanken zu lösen, den Frischekick für den Glauben und das Gemeindeleben zuzulassen. Mit dem Blick über den Tellerrand – outside the box– gilt es, bestehende Prozesse zu hinterfragen, neue Impulse zu setzen und Beteiligung zu ermöglichen.

Der LKR der ELKB arbeitet hierzu intensiv an einem Strategieprozess und ermöglicht mit dem neuen digitalen Format EINBLICK Partizipation von Mitarbeitenden, Leitungspersonen, Ehrenamtlichen etc., um möglichst viele Menschen auf die spannende Reise in die Zukunft mitzunehmen und das Mindset, die Haltung innerhalb der Organisation und damit auch Denk- und Handlungsmuster zu verändern. Die Übung in der Kunst des Weglassens und des Loslassens ist die Chance! Sie führt zur Entdeckung der Einfachheit. Die Kunst der Entdeckung der Einfachheit erfordert die Kunst der Unterscheidung und die Kunst der Entscheidung.

Die Chance neuer Orte

Was mir in der Zeit der Pandemie besonders deutlich geworden ist: Für Verlässlichkeit, Nähe und Präsenz unserer Kirche braucht es konkrete Orte, die beheimaten und die begeistern. Es braucht Seelenorte im besten Sinne! Das so wertvolle Netzwerk der Kirchengemeinden ermöglichte in der Zeit der Pandemie spontanes Reagieren vor Ort. Für den Umgang mit Covid gab es keine Muster, aber es gab eine Gemeinschaft, die getragen hat und die trägt – eine Gemeinschaft für Kirchennahe und Kirchenferne. Mit glaubwürdigen Angeboten unterbesonderen Bedingungen, in dem Spagat zwischen Nähe und Distanz, – analog und digital – wurde deutlich, wie wir die Nähe zu den Menschen herstellen können. Dank der großen Flexibilität und Kreativität der Haupt- und Ehrenamtlichen in unseren Kirchengemeinden fanden sich neue Kommunikationswege zu den Menschen – zu Alten und Jungen, in der Stadt und auf dem Land. Die tagsüber geöffneten Kirchen, die verschiedenen Angebote, wie die Gestaltung von Gebetswänden, das Öffnen virtueller Räume, Singen und Posaunenmusik auf Kirchtürmen und Balkonen, in Gärten und in den Innenhöfen der Seniorenheime, der mobile Altar auf dem Anhänger eines Traktors – all das machte deutlich: Wenn unsere Kirche in Zukunft Relevanz haben will, dann muss sie zuverlässig Orte der Gemeinschaft und der Gottesbegegnung ermöglichen, Orte, an denen sich Himmel und Erde berühren, Orte, an denen Menschen Antworten auf ihre Fragen erhalten, die sie sonst nicht bekommen. Orte der Begegnung und Gemeinschaft, des Innehaltens, des Vertrauens und der Hoffnung, Orte der Weitergabe des Glaubens, die dem traditionellen Kirchenbild folgen und Orte, die dies nicht tun. Das können auch Orte im digitalen Raum sein. Wichtig ist, dass es einladende Orte sind, an denen unsere Kirche das Evangelium den Vertrauten und den Suchenden, den Fragenden und den Fernstehenden, den Zweifelnden und den Hoffenden so nahe bringt, dass es Herz und Seele berührt.

Ein für mich sehr eindrückliches Projekt unserer Landeskirche in diesem Sommer sei an dieser Stelle erwähnt. Es entdeckte den Friedhof als Ort neuer Begegnungsmöglichkeiten. Mit dem Projekt „…unendlich still“ stellten zeitgenössische Künstler:innen auf sechs Friedhöfen in allen Kirchenkreisen Werke aus, dies ich mit den existenziellen Grenzerfahrungen und den letzten Fragen des Lebens auseinandersetzten. Ein umfangreiches Begleitprogrammmit je eigenen Eröffnungsveranstaltungen, Künstler:innengesprächen, Vorträgen und Konzerten vor Ort ließen neue Begegnungsräume entstehen mit Friedhofsbesucherinnen, mit Trauernden, mit Kunstinteressierten.

Die Chance des Blicks von außen
oder was wir von Miles Davis lernen können

Jazzgrößen wie Miles Davis oder Duke Ellington setzten bewusst auf maximale Vielfalt, um sich vor zu viel Konsens zu schützen. So sagt der Trompeter Sean Jones über Miles Davis: „Miles heuerte so unterschiedliche Musiker an, weil er immer auf der Suche nach einem Sound war, den es noch nie zuvor gegeben hatte. Wenn man seine eigenen Freunde anheuert, wird es zu einer Clique. Wenn man Leute von überall her anheuert, kann man sofort seinen eigenen Vibe kreieren. Keiner hat Hemmungen, weil niemand aus dem gleichen Umfeld kommt. Miles Davis hat das sehr gut gemacht: Wenn er eine Band anheuerte, hat er nie seine Freunde angeheuert. “Könnte Kirche vom kreativen Jazz lernen auf der Suche nach einem neuen Sound und nach Vibes, die es noch nie zuvor gegeben hat? Ich denke schon! Wichtig ist es ausmeiner Sicht, die Außenperspektiven nicht auszuklammern. Zur Frühjahrssynode 2022 luden wir bewusst Menschen mit einer Außenperspektive auf unsere Kirche ein. Einer von ihnen war der Zeit-Online-Journalist Alexander Krex – (Jahrgang 1982), gebürtiger Ostberliner. Als Suchender, nicht Wissender, stellte Alexander Krex uns Synodalen Fragen zur Kirche in der Gegenwart. Er forderte die Kirche auf, Berührungspunkte zu schaffen, ohne aufdringlich zu sein. „Keine geistliche Anremplung bitte!“ – so sein Wunsch an uns. Menschen seien auf der Suche. Dahinter verberge sich die Sehnsucht nach einer „echten Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt, die im Alltag nicht zu gelingen scheint“. Das bedeutet in der Folge, dass Kirche genau dieser Ort sein kann und muss, an dem deutlich zwischen den letzten und den vorletzten Fragen unterschieden wird, ein Ort, an dem Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Sterbens gesucht werden. Und, so Krex, Kirche muss nicht unbedingt modern sein: „Wenn das Innere der Kirche nur eine Verlängerung des modernen Draußen ist, weiß ich nicht, warum ich sie überhaupt betreten soll.“ Aus meiner Sicht darf die Kirche der Zukunft getrost ein Raum sein, in dem nicht nur das Gute getan und über das Gute geredet wird, sondern in dem Menschen ermutigt werden, über das zu sprechen, was sie unbedingt angeht. Wir sollten daher nicht müde werden, Diskussionen darüber anzustoßen, was Menschen glauben. Die Kommunikation des Evangeliums wird wesentlich befördert, wenn die Kirche ein Ort ist, an dem unterschiedliche Menschen Lust haben, authentisch von der Hoffnung, vom Vertrauen und von der Sehnsucht zu reden, die in ihnen ist.

Die Chance der Seelsorge

Eine wichtige Chance liegt in der Seelsorge. Sie ist Grundaufgabe unserer Kirche. Und hier denke ich insbesondere auch an die Kapellen, die Andachtsräume, die Räume der Stille und die Gebetsräume in unseren Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen. Diese sind Orte, an denen wir die Brüchigkeit und die Endlichkeit des Lebens in besonderer Weise spüren. Es ist gut, dass es hier Kapellen gibt. Sie sind Kraftorte – auch für Ärzt:innen, Pflegepersonal und Angehörige. Aber auch Pflege und Krankenbetten selbst sind Orte, an denen sich Himmel und Erde berühren. Und es ist gut, dass es hier Seelsorgerinnen und Seelsorger gibt, die – quasi als Fallschirmspringer:innen Gottes – vermitteln, dass die christliche Hoffnung auf den Sieg des Lebens niemals endet – allen unheilbaren Krankheiten und allen schwindenden körperlichen und geistigen Kräften zum Trotz. Genau hier wird in besonderer Weise deutlich, dass Spiritual Care, Palliative Care und die Sorge für die Seelen eine der vornehmsten und wichtigsten Aufgaben kirchli26chen Handelns und kirchlichen Lebens sind. An der Haltung zur Seelsorge zeigt es sich, wie ernst wir es als Christinnenmit unserem Glauben meinen und ob wir wirklich an eine Wirklichkeit glauben, die uns retten kann, wenn die Kräfte unseres Körpers erschöpft sind. Wir können mehr als nur Sorge um die Gestaltung der diesseitigen Welt anbieten. Wir können öffentliche, kollektive Seelsorge betreiben – nach Katastrophen, Attentaten und in Pandemien. Als Kirche der Seelsorge sorgen wir letztlich für die innere Balance unserer Gesellschaft und unseres Staates, der nicht alle Risiken des Lebens minimieren und schon gar keine Ewigkeitsgarantien verleihen kann. Ich bin fest davon überzeugt: Die Welt braucht heute dringender denn je eine Kirche, die für die Seele dieser Welt sorgt, weil diese aufgescheuchte Welt ihr Heil und ihren Frieden nicht bei sich selbst finden kann. Haben wir den Mut dazu, in diesem Sinne eine Kirche der Seelsorge zu sein! Und eine Kirche, die ihr Vertrauen nicht verspielt. Aus dem Evangelium lebt unsere Kirche von dem Vertrauen, das in sie gesetzt wird – als Institution, als Netzwerk von Kirchengemeinden, Diensten und Einrichtungen, als Anwältin für die Schwachen, als sensible zivilgesellschaftliche Akteurin. Weil sie von diesem Vertrauen lebt, darf sie dieses Vertrauen nicht verspielen. Die Erschütterungen durch die Erkenntnisse über sexuelle Gewalt und den damit verbundenen Macht- und Vertrauensmissbrauch innerhalb der Organisation unserer Kirche müssen uns dauerhaft beunruhigen. Es ist unsere Verpflichtung, die Perspektive der Betroffeneneinzunehmen, uns für ihre Belange einzusetzen, mit ihnen zureden statt über sie, sie einzubeziehen und dafür zu sorgen, dass Menschen im Raum der Kirche keine Wunden zugefügt werden. Es muss selbstkritisch und sensibel alles dafür getan werden, dass sich alle sicher, geschützt und geborgen fühlen können, die die Nähe der Kirche suchen. Sexualisierte Gewaltmuss konsequent und streng geahndet werden. Der Schutz der Betroffenen hat oberste Priorität. Wir müssen gemeinsam mit ihnen durch Maßnahmen zur Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfe alles dafür tun, dass sexualisierte Gewalt keinen Platz und keinen Ort mehr in der Kirche Jesu Christi hat. Und wir tun es bereits und haben ein starkes Team, das die Betroffenenbegleitet. Zusammen mit diesem Team müssen alles dafür tun, dass unserer Kirche ein Ort ist, der zuverlässig mit Vertrauen verbunden ist. Wir müssen alles dafür tun, dass unserer Kirche das Gütesiegel für Verlässlichkeit und Vertrauen heilig ist.

Die Chance der Gastfreundschaft

Gastfreundschaft und Gottesbegegnung gehören eng zusammen; denn Gastfreundschaft ermöglicht Gottesbegegnung. Unser Glaube ist auf die Erfahrung der Gastfreundschaft angewiesen. Aus Gottesbegegnung entsteht Gottesbeziehung. Die Bibel ist voll von Geschichten, die davon erzählen, dass Gott und die Menschen beim Gastmahl zusammenkommen und sich einander mitteilen. Das größte Gastmahl Gottes ist das Heilige Abendmahl, durch das wir der Wirklichkeit Gottes in Wort und Geist und Gemeinschaft begegnen. Durch das Teilen, das Erinnern, das Erzählen erfahren wir eine große geistliche Kraft. Gottkommt uns entgegen. Er spricht in Jesus Christus eine große Einladung in die Zukunft aus. Viele neutestamentliche Erzählungen berichten davon und haben das Bild der Tischgemeinschaft in besonderer Weise geprägt. Der Tisch des Herrn, an den Christus uns als bunte Gemeinschaft einlädt, steht nicht irgendwo im Jenseits, sondern genau in dieser Welt! In dieser Welt mit all ihren Krisen. Wir, mittendrin, erfahren mit jeder Tischgemeinschaft eine Kraft und eine Hoffnung, die uns hilft zu leben, dunkle Lebenssituationen zu bewältigen und gestärkt zu werden. Gastfreundschaft heißt, dass unser Vertrauen, das wir in Gott gründen, langsam und immer tiefer hineinwachsen kann in ein großes Vertrauen zueinander. Von diesem Vertrauen lebt christliche Gemeinde. Von diesem Vertrauen lebt Gemeinschaft. Darum ist es so wichtig, dass es Gelegenheiten und Orte gibt, sich zu begegnen, in den Kirchen, in den Gemeindehäusern, aber auch an anderen Orten, auf dem Marktplatz, in Cafés, in Bistros, in Gesprächsrunden im Internet. Da, wo Gottes Heiliger Geist weht, dort, wo wir Brot und Wein miteinander teilen, da wo er uns seinen Segen zuspricht, ist Jesus immer mitten unter uns. In den kleinen Gesten des Trostes, des Teilens, der Geduld, des Zuhörens und der Fürsorgewird seine Liebe sichtbar gelebt und weitergegeben. In den bereits erwähnten Vesperkirchen wird dies sehr deutlich. Kein Wunder, dass deren Attraktion so groß ist. Eine warme Suppe, wenn es draußen kalt ist. Ein neuer Haarschnitt, der nicht nur Würde verleiht, sondern bei dem auch über den Kopf gestrichen wird. Das Teilen einer Brotscheibe in der Gemeinschaft einer Tischrunde. Das alles drückt diese Liebe und Leidenschaft für das Evangelium aus. Und damit wären wir bei der….

……Chance des Kostens

Ja – Sie haben richtig gehört – die Chance des Kostens, nicht der Kosten. Wenn ich von „Kosten“ spreche, dann drehtes sich mal nicht um das liebe Geld, sondern dann geht es um die Sinneswahrnehmung und den Geschmack für die Freundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus. Es geht um die tiefe Sinnlichkeit einer Kirche, die leuchtet und duftet. Das Bild des „Wohlgeruchs“ verwendet schon der Apostel Paulus, um uns Christ:innen zu bezeichnen. Im 2. Korintherbrief schreibt er: „Wohin wir auch kommen, verbreitet sich die Erkenntnis Gottes wie ein angenehmer Duft, dem sich niemand entziehen kann.“ (2. Korinther 2,14). Der Heilige Geist als das Parfum Gottes in der Welt! Er sorgt für eine duftende Atmosphäre, die wir tief inhalieren dürfen. Unser ganzes Wesen will der Heilige Geist damit fluten. Und wir Christen sollen diesen Duft in die Gesellschaft verströmen – quasi Duftmarken des Evangeliums setzen.

Birthe Blauth, eine Münchner Künstlerin, setzte dies in der Kasseler Elisabethkirche im Rahmen der documenta 15 in diesem Jahr mit “Poem of Pearls” um, einer Art Paradiesgarten, in den man durch ein Labyrinth vor der Kirche gelangte. Schon aus der Ferne wies die Schrift “My Precious Pearl From Paradise” den Weg als Einladung zu einer besonderen spirituellen Erfahrung, zu Konzentration und innerer Einkehr. Mitten im Kirchenraum stand eine Schale mit Perlen, aus der sich jeder Besucher, jede Besucherin eine Perle nehmen durfte. Birte Blauth hatte das Kirchenschiff mit seinen angrenzenden, durch große Glasflächen einsehbaren Seitenhöfen draußen durchgängig mit satt grün leuchtendem, weichem Kunstrasenbelegt. Der Geruchssinn wurde subtil beeinflusst. Von einer darauf spezialisierten Firma hatte sich Blauth einen “nach Weite, Meer und Himmel” duftenden Geruchsstoff entwickeln lassen, der über einen Verdunster in der Kirche verteilt wurde.

Die Chance der Ökumene

Waren 1990 noch 72 Prozent der Deutschen Kirchenmitglieder, ist diese Zahl in diesem Jahr erstmals unter die 50 Prozent-Marke gesunken. Damit sind katholische und evangelische Christ:innen selbst zusammengerechnet keine Mehrheit mehr. Hinter dieser Entwicklung steckt ein langfristiger Trend, der sich seit Jahrzehnten abzeichnet. Die Moderne hält viele attraktive Alternativen zu religiösen Gemeinschafsformen bereit. Die Aufmerksamkeitsverschiebung vom Religiösen zum Säkularen hat die Konsequenz, dass sich die Menschen schleichend von der Religion abwenden, auch wenn sie sie gar nicht prinzipiell in Frage stellen. Religiöse Individualisierung, kulturelle Pluralisierung und Säkularisierung werden nicht aufzuhalten sein, schon gar nicht, wenn sich die Kirchen den gesellschaftlichen Trends verschließen und versuchen, sich gegen diese Entwicklungen institutionell zu behaupten oder sich voneinander abgrenzen. Deshalb sehe ich eine Chance darin, dass katholische und evangelische Kirche gemeinsam ihren reichen geistigen und geistlichen Schatz zum Leuchten bringen, indem sie die alten Texte und Rituale aktualisieren und auf unsere Zeit hindeuten und so ihren tradierten Gehalt immer wieder neu entdecken, dass sie mit Caritas und Diakonie nah bei den Wünschen, Problemen und Sorgen der Menschen sind, dass wechselseitige Beziehungen der Kirchengemeinden sich durch gemeinsame Projekte, Glaubenskurse und ökumenische Gottesdienste gegenseitig auch die Glaubwürdigkeit dessen stärken, wofür Christ:innen einstehen. Zusammengelegte Kräfte sind oft effektiver. Das zeigt im Übrigen aktuell ein Projekt der Nordkirche, das von evangelischer und katholischer Seite finanziert wird. Dingenskirchen – das ist der Titel einer Filmreihe im NDR, mit der Pastorin Ina Jäckel aus Leer zu Begegnungen mit Menschen in ihrem Alltag und zu Fragen über Gott und die Welt. Niederschwellig werden Themen der Alltagswelt zu Themen der Kirche gemacht, moderiert von einer Pfarrerin, die sich den Menschen zuwendet und ihnen einfühlsam zuhört.

Mit dem Projekt „2017 gemeinsam unterwegs“ kam es erstmals in der Geschichte zu einem ökumenisch verbindenden Reformationsgedächtnis, das vom Deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes auf evangelischer Seite und dem Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik auf katholischer Seite getragen wurde. Man verpflichtete sich auf fünf Imperative: Gemeinsamkeiten statt Unterschiede betonen! Nicht auf alten Positionen verharren! Die sichtbare Einheit als Ziel suchen! Aus der Kraft des Evangeliums leben! Zeugnis für Gottes Gnade geben! Mit diesen Imperativen wurden starke Zeichenökumenischer Verbundenheit und Verständigung gesetzt. Ein Impuls, der Hoffnung macht. Die regelmäßigen Konsultationen zwischen der VELKD sowie der EKD und Vertretern des Vatikans sind ein wichtiger und unverzichtbarer Teil des ungebrochenen ökumenischen Engagements der evangelischen Kirchen in Deutschland. Die Bilder der gemeinsamen Bootsfahrt von Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz sowie des Rats der EKD 2016 auf dem See Genezareth dokumentierten eindrücklich den gemeinsamen Willen zu einem intensiven ökumenischen Miteinander. Mehr noch als durch die Lehrgespräche und Treffen der Kirchenleitungen sind es aus meiner Sicht aber die bottom-up Prozesse in unseren Kirchengemeinden. Sie nehmen eine Entwicklung hin zu einem gemeinsamen ökumenischen Bekenntnis zu Jesus Christus längst voraus. Hier werden Augenblicke großer ökumenischer Intensität und Geschwisterlichkeit schon lange gefeiert. Von hiergehen längst deutliche Zeichen des gelebten Evangeliums aus. Zeichen gemeinsamen diakonischen Handelns, gemeinsamen Gebets – wie beim Weltgebetstag der Frauen beispielsweise. In Zeiten, in denen polarisierende Fliehkräfte das Zerbröseln unserer Demokratie und die Spaltung unserer Gesellschaft fördern, haben die christlichen Kirchen die gemeinsame Chance, starke Zeichen der Verbundenheit zu senden und Wege des Friedens, der Versöhnung und der Gerechtigkeit aufzuzeigen. Gerade in Coronazeiten haben viele kreative ökumenische Aktionen und gemeinsame Gottesdiensten Menschen im Glauben gestärkt, ihnen Halt und Zuversicht gegeben. Ein Projekt aus München „was gibt halt.de“ möchte ich an dieser Stelle stellvertretend für die zahlreichen ökumenischen Aktionen an der Basis nennen. Ökumenische Feste, Projekte werden auf der Homepagedokumentiert und machen deutlich: Nicht im Geist konfessioneller Abgrenzung, sondern im Geist der Ökumene werden wir die Zukunft der Kirche gestalten können, denn wir haben trotz aller Unterschiede verstanden, dass der Geist Christi kein Geist der Abgrenzung, sondern der Versöhnung und des Miteinanders ist. Ökumene und interreligiöser Dialog sind unumgängliche Themen in einer sich immer pluralistischer gestaltenden Gesellschaft und zugleich sind sie eine Chance.

Die Chance, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein

„Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt!“, sagt Jesus in der Bergpredigt im fünften Kapitel des Matthäusevangeliums. Dies können wir als Kirche Jesu Christi in Wort und Tat widerspiegeln und verkörpern und damit das Gesicht unserer Gesellschaft prägen. Nur wenn die Radikalität der Bergpredigt, die Radikalität der Botschaft Jesu Christi, das weltverändernde Potential des Evangeliums, die wirklichkeitserschütternde Kraft der prophetischen Verheißungen im Alltag der Menschen spürbar und erfahrbar wird, dann ist Kirche attraktiv, dann zieht sie die Menschen an. Christus begegnet Menschendurch Menschen. Es ist unsere christliche Mission, Licht auf die Ungerechtigkeit und auf das Unheil dieser Welt zu werfen und zu Anwälten derer zu werden, die im Dunkel sitzen. Das ist unsere Chance! Unsere Sprache ist das Licht. Verlernen wir diese Sprache nicht! Denn sie allein ist es, durch die die Welt in Wort und Tat durchscheinend wird für Gottes Gegenwart. Sie allein ist es, durch die die Welt daran erinnert wird, dass sie nicht mit sich selbst allein ist. Ich komme zum Schluss: Wir alle wissen, dass sich das Evangelium der Hoffnung, die wesentlich Hoffnung gegen den Trend ist, nur in Menschenverkörpert. Es braucht daher Menschen, die geistesgegenwärtig und sichtbar zu Zeichen dieser Hoffnung und zu Zeichen zukunftsfähigen Christseins werden. Es braucht Menschen mit Erfindungsgabe. „Ecclesia semper reformanda“ heißt für mich also tatsächlich, dass wir die Kirche in gewisser Weise immer wiederneu erfinden müssen, damit sie dem Geist ihres Herrntreu und auf diese Weise zukunftsfähig bleibt. Wir Christ:innen haben es selbst in der Hand: mit welcher Haltung wir Zeugen und Zeuginnen des Evangeliums sind, wie wir als Christ:innen miteinander umgehen und wie das Evangelium durch unser Leben in der Welt durchschimmert. Ob Menschen mit der Kirche in Kontakt kommen und in Kontakt bleiben und ob diese Kirche einen prägenden Eindruck bei ihnen hinterlässt, steht und fällt mit der persönlichen Präsenz jener Menschen, die die Kirche im Lebensraum der Menschen repräsentieren. Als Kirche leben wir in der Kraft des Heiligen Geistes. Wir müssen den Wind der Veränderung unserer Welt nicht fürchten, weil Gott selbst der große Weltveränderer ist. Bob Dylan dichtete und sang im Jahr 1964 ein Lied über die Veränderung. Eine Strophe daraus lautet: „You better start swimmin’ or you’ll sink like a stone. For the times they are a-changin’“. Wenn wir nicht schwimmen lernen, werden wir untergehen wie ein Stein. Denn die Zeiten ändern sich.“ Die Herausforderung einer reformatorischen Kirche der Zukunft wird darin bestehen, nicht an ihrer eigenen bleiernen Schwere und Behäbigkeit unterzugehen, sondern immer wieder neu zum Ort der Inspiration und zum Stein des Anstoßes zu werden, der Kreise zieht. Im besten Fall bringen wir sie sogar zum Fliegen: leicht, wendig, ohne Bodenhaftung mit viel Aufwind. Natürlich brauchtes eine ganze Menge Fantasie, um als Kirche des Geistes und des frischen Windes Experimente der Veränderung zu wagen. Wir haben nicht nur eine Chance! Wir dürfen uns überraschen lassen und Andere überraschen! Wir dürfen dem Unerwarteten in unserem durchgetakteten, durchgeplanten und durchorganisierten Alltags- und Kirchenleben Raum geben. Wir dürfen und wir müssen offen für das Spontane und die unerwarteten Blickwinkel bleiben. Denn es könnte ja sein, dass es der Geist Gottes ist, der unsere gewohnten und eingefahrenen Wahrnehmungsmuster durchbricht!

Dr. Annekathrin Preidel ist Präsidentin der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Sie hielt diesen Vortrag am 10. Dezember 2022 auf der Tagung “Evangelische Kirche – wohin?” an der Evangelischen Akademie Tutzing (Informationen dazu hier).
Ein Bericht zur Tagung folgt.

Bild: Annekathrin Preidel am 10.12.2022 in der Rotunde der Evangelischen Akademie Tutzing (Foto: dgr/eat archiv)

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