In seiner ersten Veranstaltung als Leiter des Politischen Clubs packte der Autor und Publizist Roger de Weck gemeinsam mit Akademiedirektor Udo Hahn das Thema des Jahres 2022 an: den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann. Die Herbsttagung des Politischen Clubs vom 11.-13. November beleuchtete den Krieg, seine Ursachen, Folgen und Zukunftsszenarien unter dem Aspekt der Beziehungen, Abhängigkeiten und unterschiedlichen Perspektiven von “Deutschland und Osteuropa” (zum Programm der Tagung).
Die Bilder der Tagung haben wir in dieser Galerie für Sie zusammengestellt.
Den ausführlichen Bericht zur Tagung können Sie hier abrufen.
Ausgewählte Audiomitschnitte aus der Tagung finden Sie überdies in unserem “Seefunken”-Podcast. Hier mehr erfahren
Alle Fotos: Oryk Haist / Evangelische Akademie Tutzing
Herbstnebel am Starnberger See – und in der warmen Rotunde trafen sich Referierende und Tagungsgäste zur Herbstagung des Politischen Clubs. Das Thema war vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine gesetzt: “Deutschland und Osteuropa” (zum Programm).
Via Online-Schalte sprach die deutsch-ukrainische Politikerin, Publizistin und Psychologin Marina Weisband. Sie stieg in ihren Vortrag mit einem psychologischen Ansatz ein: dem des Selbstwertgefühls. In den früheren Ländern der Sowjetunion, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe hätten, habe sich ab den 1930ern eine Tradition der Autorität etabliert, die dem Individuum bis heute jegliches Selbstwertgefühl und jegliche Selbstwirksamkeit abspreche: “Der Mensch ist Staub, was zählt ist das Große.” In einem Akt “erlernter Hilflosigkeit” würden sich Menschen gedanklich selbst unterdrücken.
Um die Verflechtung zwischen Politik und Religion in der Ukraine und in Russland ging es in dem Vortrag von Stefan Kube, Leiter des Ökumenischen Forums für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West in Zürich. Im Anschluss moderierte Akademiedirektor Udo Hahn (unten rechts im Bild) die Debatte mit dem Publikum.
Stefan Kube beleuchtete zunächst die Verflechtungen von Politik und Religion in Russland, danach die in der Ukraine, die Folgen des russischen Angriffskriegs und Szenarien für eine zukunftsfähige Ostpolitik. Dabei erwähnte er auch die komplexe ukrainische Kirchenlandschaft, die gespaltene Orthodoxie und das Verhältnis der Kirchen zum Kreml. In Russland beschrieb Kube eine fortschreitende Radikalisierung, die sich in der Haltung von Patriarch Kirill zum russischen Staat zeige. Habe dieser sich zunächst für Frieden ausgesprochen, habe er schließlich im März 2022 einen “metaphysischen Kampf” beschrieben, der sich in einer “Gay Pride Parade” offenbare (Predigt vom 6.3.2022 zum “Sonntag der Orthodoxie”). Im September hatte Kirill die Gläubigen seiner Kirche dazu aufgefordert, für “unsere Armee zu beten”, die nur dann das Schwert zücke, wenn “es moralisch, sittlich und sogar geistlich gerechtfertigt ist.”
Die Tagung bot auch Raum für die Perspektive eines russischstämmigen Kunst- und Kulturschaffenden. Unter der Titelzeile “In der heutigen Welt können wir nicht sagen: Wir sind einfach nur Musiker und spielen Musik” (ein Zitat Jurowskis) sprach die Radioredakteurin des Bayerischen Rundfunks Sybille Giel mit Vladimir Jurowski, dem Chefdirigent und Künstlerischen Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin sowie Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Jurowski wurde 1972 in Moskau geboren und lebt mittlerweile seit 30 Jahren in Deutschland. Bis zum Ausbruch des Krieges pendelte er oft zwischen beiden Ländern hin und her. “Die Propagandamaschine läuft im Moment auf Hochtouren”, sagte Jurowski. Das Land habe begonnen, sich von innen zu verschließen, jeden Tag würden Institutionen, Organisationen und Läden dichtmachen. Es sei wie ein Adventskalender – nur eben umgekehrt: Türen gingen zu statt auf.
In seinem Vortrag “Abschied von der Versorgungssicherheit” ging Dr. Frank Umbach, Forschungsleiter des Europäischen Cluster für Klima-, Energie- und Ressourcensicherheit (EUCERS), Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn auf die aktuelle Entwicklung ein. Umbach äußerte sich wie weitere Referierende kritisch zur “Zeitenwende”. Der Begriff suggeriere Änderung – jedoch die Welt habe sich nicht geändert, sondern es seien Fehleinschätzungen gemacht worden, die Umbach als “kollektive Realitätsverweigerung” beschrieb.
Ein weiterer Aspekt berührte den Krieg Russlands in der Ukraine hinsichtlich seiner Folgen für die Sicherheitspolitik. Dazu sprach der Jurist und Ökonom Michael Rühle, Leiter des Planungsreferats in der Politischen Abteilung der Nato in Brüssel.
Der Angriff Russlands habe in Deutschland und innerhalb Europas einen Schock ausgelöst, sagte Rühle. Bundeskanzler Olaf Scholz habe die außergewöhnliche Situation erkannt und unter dem Begriff “Zeitenwende” außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen. Die Zeitenwende habe gezeigt: “Wir sind mehr und können mehr als bloße Zivilmacht zu sein.” Unter der Oberfläche habe sie aber zahlreiche strukturelle Probleme der Sicherheitspolitik zum Vorschein gebracht: die jahrelange Vernachlässigung der Bundeswehr, eine weitgehend sich auf das Symbolische beschränkende Sicherheitspolitik, Parlamentsvorbehalte und Probleme hinsichtlich des “sicherheitspolitischen Ideenhaushalts”, so Rühle.
Als weiterer Referierender sprach der Pfarrer und letzte Außenminister der DDR, Markus Meckel. Hinsichtlich Krieges in der Ukraine konstatierte er: “Was wir erleben, hat Züge eines Vernichtungskrieges, auch wenn wir mit dem Begriff vorsichtig sein müssen.” In Russland regiere ein autokratischer Präsident, der Angst vor Freiheit und Demokratie habe, “denn das könnte in Russland ja Schule machen.” Damit unterscheide sich Putin ganz grundsätzlich von Michail Gorbatschow, der bereits Mitte der 1980er Jahre intervenierte, wenn Freiheit und Demokratie als rein “westliche Werte” reklamiert wurden. Meckel selbst sagte, er habe den “brutalen Eroberungskrieg” Putins nicht für möglich gehalten (mehr auch im Interview mir SWR 2 vom 11.11.2022: Markus Meckel: Krieg in der Ukraine ist Ergebnis unserer Politik – SWR2).
Prof. Dr. Manuel Fröhlich, Politikwissenschaftler und Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Trier, ging im Gespräch mit Roger de Weck auf die Ostpolitik Deutschlands ein. In Bezug auf das Konzept von Willy Brandt äußerte auch Fröhlich Kritik. Der Begriff habe sich irgendwann einmal “selbständig gemacht” und dabei auf einem westpolitischen Fundament gestanden. Der Politologe Fröhlich schlug als wegweisend für eine neue Ostpolitik die Prinzipien von des früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt vor, die dieser unter den “Vier Freiheiten” eines Menschen 1941 in seiner Rede zur Lage der Nation beschrieben hatte.
Von links nach rechts: Akademiedirektor Udo Hahn, Janusz Reiter und Dr. h. c. mult. Roger de Weck.
Den Auftaktvortrag zur Tagung hielt Janusz Reiter. Er war von 1990 bis 1995 Botschafter von Polen in Deutschland, von 2005 bis 2007 Botschafter in den USA. Reiter berichtete von seiner ambivalenten Einstellung zum Motto von Egon Bahr “Wandel durch Annäherung”. Selbst die beste Idee überdauere sich irgendwann einmal – so sei es auch mit dieser. So trug nach der Auffassung Reiters die Ostpolitik Brandts dazu bei, den Status Quo von etwas zu wahren, das eigentlich überwunden werden sollte. In diesem Zusammenhang äußerte Reiter auch Kritik an Politiker: innen, die Russland lange als “Nachbar” Deutschlands bezeichnet und dabei Polen übergangen hätten. Erst jetzt würde hier ein Wandel im Denken einsetzen.
-
-