Vorausdenken hoch zehn: Unsere Jubiläumstagung “Imagine – Impulse für eine bessere Welt”

Welchen Stellenwert hat Geschichtsschreibung für das Gestalten von Zukunft? Wie sollte Journalismus in Krisenzeiten aussehen? Wie kann Kultur Bewusstsein schaffen? Wie schaffen wir es, die Bedürfnisse des Globalen Südens besser mitzudenken? Kann Glaube weiterhelfen und wenn ja, wie? Und warum könnte uns auch Seinlassen und Nicht-Tun weiterbringen? Fragen wie diese verhandelte die Evangelische Akademie Tutzing auf ihrer Jubiläumstagung Ende September. Hier lesen Sie den ausführlichen Bericht.

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Vorausdenken – unter dieses Motto hat die Evangelische Akademie Tutzing ihren Themenschwerpunkt anlässlich ihrer Gründung vor 75 Jahren gestellt. Vier Tagungen beschäftigen sich in ganz besonderer Weise mit Ideen für die Zukunft. Während es im ersten Halbjahr um die Zukunft der Demokratie und die der Zivilgesellschaft ging, geht es in der zweiten Jahreshälfte um die Zukunft der Evangelischen Kirche sowie in der besonderen Jubiläumstagung “Imagine” vom 23.-25 September 2022 um Impulse für eine bessere Welt.

Zehn Impulse aus zehn verschiedenen Themenwelten bot die Akademie. Zehn Beiträge, die gleichzeitig einen Einblick in die thematische Bandbreite der Arbeit der Akademie gaben. So waren auch alle Studienleiterinnen und -leiter des Hauses an der Vorbereitung und Moderation der Tagung beteiligt, eine Besonderheit an der Akademie, dem besonderen Anlass gebührend. Das Interesse an der Tagung war groß: ein volles Haus und eine schöne Tagungsstimmung im generationenübergreifenden Publikum vervollständigten das Programm und ließen es zu einer erfolgreichen Jubiläumstagung werden.

Der Traum von einer Wende

Den Eröffnungsvortrag “Erinnern für die Zukunft” hielt Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der internationalen Nichtregierungsorganisation “Memorial”. Sie begann ihren Vortrag mit einer persönlichen Erinnerung: Vor 33 Jahren hatte sie ihren ersten öffentlichen Vortrag in Deutschland und in deutscher Sprache am selben Ort gehalten, an dem sie nun stand – in der Evangelischen Akademie Tutzing. Ihr Impuls war geprägt von der zeitgeschichtlichen Aktualität, dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Rolle, die die Geschichtsschreibung, Geschichtsaufarbeitung und -deutung von offizieller Seite dabei spielte. Die Germanistin, Kulturwissenschaftlerin, Historikerin und Bürgerrechtlerin betonte die Relevanz von Erinnerungskultur für Friedenspolitik. Die Erzählweisen von Geschichte, das, was man kollektive Erinnerungen nennt, seien fundamental für die Identität einer Nation und daraus folgende politische Entscheidungen.

Scherbakowa berichtete von ihren Anfängen als Historikerin für “Memorial”, die in die Zeit der Perestroika von Michail Gorbatschow fiel. Sie beschrieb Gorbatschow in erster Linie “als Mensch – ein Mensch, der Veränderungen wollte”. Die Perestroika sei ein Glücksfall für Russland gewesen. Für etwa drei bis vier Jahre habe sie die geschichtliche Aufarbeitung der Staatspartei KPdSU betrieben, dann sei der Umbruch der 1990er Jahre gekommen – und damit alles anders. In der Zeit der Reformen sei ihr die Aufklärungsarbeit entglitten. Der Grund: Niemand habe mehr über die Sowjetzeiten reden wollen, sie sei auf taube Ohren gestoßen, keiner wollte mehr aufarbeiten. Das Land sei von einem “sehr brutalen Kapitalismus” Anfang der 1990er Jahre überrollt worden. Viele Menschen landeten hart auf dem Boden der Realität. Es entstand nunmehr eine Nostalgie nach früheren Sowjetzeiten. In dieser Zeit war “die Gesellschaft reif für eine Figur wie Putin”. Ein Politiker, der aus dem Apparat der Staatssicherheit kam, mit dem Täuschen vertraut. Die Entwicklung der folgenden Jahre bis zum heutigen Tag, habe sie und ihre Gefährt:innen “nicht geschockt”. Vielmehr sei diese Entwicklung absehbar gewesen.

Scherbakowa beschrieb im Anschluss die Phasen der Regierungszeit Putins. Seine Geschichtspolitik sei ein wichtiges Instrument seiner Politik, das sie als “populistisches Mosaik ohne Ideologie” beschrieb. Dieses Mosaik sei “schillernd wie ein Kaleidoskop”: es glorifiziere der Zarenzeit, instrumentalisiere Denkmälern und verbinde darin nationalistische Elemente. In diesem Geschichtsbild werde alles “wie in einen Eimer geworfen”: Zar Peter der Große, Iwan der Schreckliche, Stalin, der zwar Verbrechen beging, aber so Putin “ja den großen vaterländischen Krieg gewann” – was, so Scherbakowa “natürlich ein Mythos ist”.

“In Wirklichkeit besteht diese Geschichtspolitik aus vielen giftigen Mythen”, sagte die Bürgerrechtlerin. Feindesbilder spielten dabei eine wichtige Rolle. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg und den Desinformationsstrategien russischer Propaganda um diesen herum erklärte sie: “Dieser Krieg wurde in den Köpfen der Menschen begonnen, mit dieser verdammten Geschichtspolitik.”

Es gebe auch ironische Momente. So werde etwa das Buch “1984” von Aldous Huxley in Russland viel gelesen. Und wie in dem Buch, so heißt das Propagandaministerium in Russland heute “Ministerium der Wahrheit”.

Scherbakowa erzählte auch von der Zerschlagung ihrer Organisation. Einige ihrer Kollegen sind nun im Gefängnis, sie selbst hat das Land verlassen und berichtete von einem Gefühl der Ohnmacht. Sie glaubt: “Putin wird auf alles setzen”, der russische Präsident werde seine Macht nicht einfach so abgeben. Russland werde eines Tages erwachen, “aber der Preis dieses Erwachens wird ein fürchterlicher sein.”

“Mein Land ist Russland”, sagte Scherbakowa und meinte damit ihre eigene kulturelle Zugehörigkeit, nicht die Politik Wladimir Putins. Sie forderte vielmehr Solidarität mit der Ukraine. In der anschließenden Diskussion sagte sie, sie träume von einer Wende. Und davon, “dass Russland mit dieser Wende beginnt”. Der Vortrag löste rege Diskussionen aus – ebenso wie tiefe Betroffenheit.

“Ein Journalismus, der klüger macht, nicht nur erregter”

Das Paradigma der Desinformation wurde am Folgetag wieder aufgegriffen, als Georg Mascolo, Journalist und von 2014 bis 2022 Leiter der die Recherchekooperation von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung sprach. “Corona & Krieg: Journalismus in Zeiten der Disruption” lautete der Titel seines Vortrages, in dem er einen Journalismus forderte, der “klüger macht, nicht nur erregter”. Ein solcher Journalismus solle informierten, mehr Sachlichkeit und Erklärungen bieten und weniger Alarmismus an den Tag legen, mit weniger Superlativen und ohne Überspitzungen auskommen sowie den Blick für das Unbekannte öffnen und Verständnis fördern. “Abgrenzung zur Aufregung” und “kein Drehen an der Eskalationsschraube”, so fasste er guten journalistischen Stil zusammen – dazu wäre ein angemessenes Maß in Ton und Tempo sowie sorgfältig gewählte Worte notwendig.

Der Journalismus, den sich Georg Mascolo wünscht, beschäftigt sich auch mit sich selbst und stellt sich den drängenden Fragen der Zeit. Dazu gehörten auch Begriffe wie Diversity, Vertrauen, Fehlerkultur. Diversity, die personelle Aufstellung der Redaktionen betreffend, Vertrauen, das zum Teil wieder neu gewonnen werden muss – sowie der Umgang mit eigenen Fehlern (Stichwort: die Affäre Relotius). Er scheute dabei nicht vor Eigenkritik: “Wir müssen an uns die gleichen Maßstäbe anlegen, die wir an alle anderen anlegen.”

Eine wichtige Eigenschaft für Menschen, die im Journalismus arbeiten, sollte die Bereitschaft sein, sich besonders für das zu interessieren, das man nicht selbst denkt“. Er selbst habe oft erlebt, wie Recherche den Blick verändere. Und noch ein weiterer Punkt war Mascolo wichtig: “Den Journalismus gibt es nicht, genauso wenig wie die Politik oder die Wirtschaft.”

In der lebendigen Debatte im Anschluss ging es um den Begriff Wahrheit, Krieg und Wahrheit, Fehlerkultur, die Rolle des Journalismus im Krieg, investigative Recherchearbeit, Mediennutzung von jungen Leute (“eine atemlose Art sich mit Nachrichten zu beschäftigen”) und Medienpädagogik an Schulen, um den Auftrag des Journalismus, Kritik an dem Medien und am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Schlussfrage zielte hier auch auf die Selbstreflektion: “Wozu verpflichten uns unsere Geschichten?”

Der Eigenwert von Kunst und Kultur

Auf den Input zum Journalismus folgte ein Vortrag zu Kultur, Stadt und Erinnerung. Prof. Dr. Hans-Joachim Wagner, Leiter der Stabsstelle Ehemaliges Reichsparteitagsgelände im Geschäftsbereich der Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg, kam unter dem Titel “Zukunft gestalten? Mit der Kraft der Kultur!” noch auf die Frage der demokratischen Geschichtskultur zu sprechen, die Irina Scherbakowa einleitend bereits thematisiert hatte. Am Beispiel seiner Stadt Nürnberg und des dortigen Umgangs mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände skizzierte er kulturpolitische Strategien, das historische Erbe des Nationalsozialismus demokratisch zu nutzen: Es gehe darum, diesen Ort zu einem Ort der Bildung und Aufklärung und der Kritik am Nationalsozialismus werden zu lassen und ihn gleichermaßen im besten freiheitlich demokratischen Sinne zu nutzen: Als Raum für Kunst, Kultur und Vielfalt. Dabei kam Wagner auf das Konzept der Transkulturalität von Wolfgang Welsch zu sprechen. Sie forme aus eigenen und fremden Elementen gleichermaßen der Begriff von Kunst und Kultur.

In seinem Impuls stellte Wagner drei Beispiele aus Nürnberg vor: Der Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände, das Global Art Festival und das Beispiel der Kulturläden. Im Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände sei man lange zwischen Verdrängung und bewusstem Pragmatismus gependelt. Heute sei man überzeugt: Historische Relikte sind zu sichern und jede Generation soll sich aufs Neue damit beschäftigen können. Der heutige Umgang verschränke Aufklärung mit und verbinde sie mit den Potenzialen von Kunst und Kultur. Um den Erinnerungscharakter von Orten zu bewahren und sie zugleich zu Orten der Aufklärung zu machen, habe man sich in Nürnberg dazu entschieden, ein “begehbares Exponat” daraus zu machen. Das Zeppelinfeld und die Tribüne sollten dadurch physisch erfahrbar sein und reflektierbar werden. Gleichzeitig sollte die Vermittlung von Bildungsinhalten auf intuitiver Ebene gelingen.

In seinem zweiten Beispiel ging er auf das Global Art Festival ein, ein singuläres Event mit breitem Kulturbegriff, dass etwa Poetry Slam, Performances und Ausstellungen miteinander kombinierte und ein besonderes Augenmerk auf die Charakteristika des Publikums hat.

Er berichtete hier von einer besonderen Kooperation mit dem Germanischen Nationalmuseum. Das vielbesuchte Museum sei lange einem exkludierenden Ausstellungskonzept gefolgt, habe sich allein als Forschungseinrichtung verstanden. 2019 startete es eine Zusammenarbeit mit dem Global Art Festival. Dabei beschäftigte man sich mit den Beständen des Nationalmuseums, sie wurden befragt und kritisiert. Zentral dabei war die Frage: Wie können Exponate durch neue Betrachtungsweisen von lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Kunstschaffenden ausschließende Charaktereigenschaften ablegen? Durch die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden hätten hier, so Wagner, neue Perspektiven auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft gewonnen werden können, auch durch eine neue Form des Kuratierens und Dokumentierens. So sei es gelungen, mehr Partizipation zu schaffen: dank eines permanenten Austauschs, der auf Inklusion beharre und der das Kriterium der Diversität berücksichtige.

Im dritten Beispiel ging Wagner auf das Konzept der Kulturläden ein. Sie böten Raum für Kommunikation im öffentlichen und halb-öffentlichen Raum. Der Gedanke hier: Orte des gemeinsamen Lernens zu finden und weniger auf Qualifikation und Zertifikate setzen, sondern vielmehr neue Zugänge zu formaler und non-formaler Bildung setzen. In der “Komm-vor-Zone” würde öffentlicher Raum zu gemeinsam genutzter Komfortzone und fördere dabei eine neue Debattenkultur. Open Spaces wie diese, mit ganz unterschiedlichen Künsten und Kulturen, besäßen sinnstiftende und gesellschaftsbildende Kräfte. Jedoch, weist Wagner hin, gehe das nur, wenn eine Anerkennung pluraler Gesellschaften erfolgt, die Community muss in ihrer ganzen Breite eingeladen werden.

Wagner unterstrich den Eigenwert von Kunst und Kultur: Sie brächten Erfahrungsräume und konfrontierten die Menschen mit den mit Blicken von anderen. Die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung sei das Potenzial, das es zu schützen gelte.

Bildung und Information stellen zwei Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft dar. Wie notwendig diese Pfeiler sind, wird in den letzten Jahren anhand der Herausforderungen offenbar, mit welchen sich unsere Gesellschaft sah und noch immer sieht. Neben Desinformation und Krieg stellen die Coronapandemie und die Klimakrise solche Herausforderungen dar. Beide waren auf der Tagung vertreten und wurden auf die Leitfrage – Impulse für eine bessere Zukunft – hin abgeklopft.

Konsequenter Umwelt- und Klimaschutz als Baustein von Pandemiemanagement

Was ist schon normal? Unsere gesellschaftliche Normalität geriet mit Beginn der Coronapandemie aus den Fugen. Ab März 2020 befanden wir uns im Ausnahmezustand. Ab Herbst 2020 sprachen dann viele von einer “neuen Normalität”, die Einzug halte. Sie hält bis heute an, auch wenn immer wieder Politiker:innen meinen, die Pandemie für beendet erklären zu können – zuletzt der US-Präsident Joe Biden.

Prof. Dr. Ulrike Protzer, Inhaberin des Lehrstuhls für Virologie an der Technischen Universität München und Direktorin des Instituts für Virologie an der TUM und am Helmholtz Zentrum München, ging in ihrem Vortrag auf die gesellschaftliche Tragweite der Covid19-Pandemie ein. Sie referierte unter dem Titel “Nie mehr Normalität? Wie Pandemien unser Leben verändern”. Anhand genauer Informationen und Grafiken legte sie in klarer, verständlicher und unaufgeregter Weise dar: Abhängig von der Bevölkerungsstruktur und der statistischen Erfassung hat die Coronapandemie weltweit für eine in den Zahlen deutlich ablesbare Übersterblichkeit gesorgt: Covid-19 ist eine ernsthafte und nach wie vor gefährliche Krankheit. Aber: die Welt stehe nicht schutzlos da. Die Impfstoffe, die in beeindruckend schneller Weise entwickelt worden sind, sind wirksam: sie schützen, insbesondere nach drei Impfungen, effektiv vor schweren Erkrankungen – wobei die Hoffnung, sie könnten auch langfristig gegen die Infektion an sich schützen, leider enttäuscht wurde, anders gesagt: Es sind Covid-Impfstoffe, keine Sars-Cov2-Impfstoffe.

In der Diskussion wurde deutlich, wie sehr die Frage die Menschen beschäftigt: Wie geht es nun weiter? Die Antwort von Frau Professorin Protzer: Durch Impfungen und Infektionen sind viele Menschen in Deutschland gut geschützt. Entscheidend sei, “drei Virusereignisse” durchgemacht zu haben. Für besonders gefährdete Menschen – Hochaltrige und Vorerkrankte – solle ein erneuter Booster in Betracht gezogen worden.

Während viele Menschen von der Pandemie überrascht worden sein, sei es für die Forschung klar gewesen, dass über kurz oder lang ein Virus aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen werde, so Protzer. Schon lange dränge der Mensch zu sehr in die Tierwelt, greife zu sehr in sie ein. Auch seien etwa im Grenzgebiet von China, Laos und Myanmar zahlreiche sehr ähnliche Coronaviren in Fledermäusen gefunden worden. Allerdings müsse auch hier differenziert werden: Durch Sars-Cov2 bestehe gegen diese Viren nun ein guter Schutz.

Die Diskussion endete mit einem Ausblick in die Zukunft. Wenn der Mensch immer weiter in die Lebensräume von Tieren eindringe, sei es absehbar, dass immer mehr Zoonosen entstehen würden, so die Virologin. Konsequenter Umwelt- und Klimaschutz sowie die Bewahrung von natürlichen Lebensräumen sei so ein wichtiger Baustein des zukünftigen Pandemiemanagements.

Der Erhalt der Grundlagen allen Lebens auf der Erde

“Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet.”, so der Informatiker Alan Kay. Die globale soziale Bewegung Fridays for Future (FFF) will dies tun – und ist gleichzeitig enttäuscht von der Politik. Die Parteipolitik treibe den Klimaschutz nicht im notwendigen Maße voran, sagten die Referentinnen Anja Paolucci und Sonja Ziegler von Fridays For Future München in ihrem Vortrag “Klimaschutz – Oder die Zukunft ist jetzt zu Ende”. Paolucci ist seit 2019 in der inhaltlichen Arbeit der FFF-Bewegung tätig, Ziegler unter anderem in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnenplanung, als Helferin in einem Freiwilligen Ökologischen Jahr beim Umweltinstitut e.V. in München. Paolucci betonte: “Ich habe keine Hoffnung mehr für unsere Welt.” Beide sind Klima-Aktivistinnen bei FFF. Die Hauptforderung der Bewegung ist, das Erreichen des 1,5 Grad-Ziels durch Klimaschutz-Maßnahmenerreicht werden soll. Dieses wurde in der UN im Pariser Klimaabkommen beschlossen. Paolucci und Ziegler machten deutlich, dass es mittlerweile höhere Ziele bräuchte, zumal das 1,5 Grad-Ziel dabei eine “mehr oder weniger willkürlich gewählte Zielmarke” sei.

Ziegler und Paolucci fragten in ihrem Input: “Was, wenn wir die Klimakrise nicht mehr in den Griff bekommen? Schaffen wir es nicht schleunigst, sämtliche globale Emissionen auf Null zu senken, wird sich die Erde um mindestens drei Grad erhitzen. Eine solche Erhitzung kommt einer klimatischen Katastrophe gleich, die für uns kaum vorstellbar ist. Was bedeutet eine Erderhitzung solchen Ausmaßes für das System Erde und was bedeutet eine eskalierende Klimakatastrophe für unsere Gesellschaft?”. Der Skizzierung der drohenden Klimakatastrophe setzten Ziegler und Paolucci die Vision Klimagerechtigkeit entgegen. In ihrer Utopie geht es ihnen “in erster Linie um den Erhalt der Grundlagen allen Lebens auf der Erde.” Die Bewegung Fridays For Future kämpfe “um unser Überleben”, so Ziegler und Paolucci. “Es wird heute entschieden, welche Welt wir in 20, 30, 100 Jahren erleben und es gilt für die bestmögliche Welt zu kämpfen.”

Die Bewegung FFF ist durch regelmäßige Klimastreiks bekannt – ein ebensolcher, der 11. globale Klimastreik, fand auch am ersten Tag von „Imagine – Impulse für eine bessere Welt“ am 23. September 2022 statt. Allein in Deutschland waren nach Angaben der Organisator:innen 280.000 Menschen in 270 Städten auf den Straßen, darunter auch Paolucci und Ziegler. Beide zeigten sich zufrieden mit dem Streik. Sie verdeutlichten den Arbeitsaufwand, der hinter diesem ehrenamtlichen Engagement stecke.

Der von Paolucci und Ziegler angesprochene Klimastreik war auch von Annette Kurschus unterstützt worden. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hatte am 23.09.2022 gesagt: “Die Klimakrise wartet nicht, bis Kriege entschieden sind und der Friede gewonnen ist. […] Klimaschutz ist auch Friedenspolitik und Sicherheitspolitik und Sozialpolitik.” Die im Vorfeld des Aktionstages am 23.9. durch den Bundesfinanzminister bereitgestellten Sondervermögen zur Unterstützung der Ukraine, unter anderem für die Bundeswehr, veranlasste die Klimabewegung FFF, Mitte September ebenfalls ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden zu fordern: und zwar für den Klimaschutz. Ein Teil des Vermögens solle demnach auch in den Globalen Süden fließen. In Tutzing betonten Paolucci und Ziegler die enge globale Zusammenarbeit der Klimabewegung und das Einladen von Respräsentant:innen des Globalen Südens.

Dass soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz oft gegeneinander ausgespielt werden, ist ein Punkt, an dem sich die beiden Klima-Aktivistinnen reiben. Paolucci und Ziegler wiesen darauf hin, dass die Energie- und Klimakrise die gleiche Ursache habe – die Abhängigkeit von fossiler Energie. Beide erwähnten Luisa Neubauer, die fordert, dass Klimaschutz für alle Menschen umsetzbar sein müsse. Es dürfe nicht so kommen, dass man sich Klimaschutz leisten können müsse.

“Erst im Nicht-Tun kommen wir zum Wahrnehmen”

Einen zurückhaltenden Impuls für eine bessere Welt setzte Prof. Dr. Alice Lagaay, Professorin für Medientheorie & Performative Studies an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Sie sprach sich für die negative Performance, eine Form der neutralen Haltung in Bezug auf die Welt auf, die auf Offenheit ebenso abzielt, wie eine sorgfältige Reflektion, wann es darauf ankomme, Impulse zu setzen – und wann darauf, das nicht zu tun.

Lagaay begann ihren Vortrag mit einem historischen Rückblick: Das Scheitern oder die Erschöpfung seien traditionell negativ konnotiert, wie auch von Roland Barthes in den 1980er Jahren beschrieben. Heute sei das teilweise anders. Lagaay zitierte den von Byung-Chul Han geprägten Begriff der Müdigkeitsgesellschaft: Das Ausgebranntsein gelte als Beleg, gebrannt zu haben – die Erschöpfung als Beweis hoher Leistung sei nun deutlich positiver konnotiert. Die Zahl von Burnout-Patient:innen sei gegenwärtig hoch wie nie, doch werde, so kritisiert Lagaay, die Krankheit behandelt, wie ein Beinbruch: Nach “Genesung” werde gesellschaftlich die nahtlose Rückkehr in jene Strukturen erwartet, die einst für die Krankheit mitverantwortlich waren, ohne etwas an den Strukturen selbst zu ändern.

Damit dies geschehen könnte, müssten Menschen in Machtpositionen anfangen zuzuhören. Das Zuhören aber erfordere, still zu sein. Ohne Stille kein Zuhören, ohne Zuhören kein Innehalten, keine Pause in fortwährender Produktivität. Erst im Nicht-Tun kommen wir zum Wahrnehmen. Es sei dabei wichtig, auch dieses Nicht-Tun in einer Gesellschaft, die auf Produktivität und Leistung gepolt sei, positiv zu konnotieren.

Das Nicht-Tun, die negative Performance oder “das Neutrum”, um das es Lagaay dabei geht, sei in seiner Natur schwer zu erforschen. Denn sobald es erreicht sei, werde es alleine durch die auf sie gelegte Aufmerksamkeit des Forschungsinteresses in seinem tiefsten Wesen wieder aufgelöst.

Das Neutrum sei in seiner Flüchtigkeit eine Haltung, eine Weise in der Welt zu sein und sie erstmal als das wahrzunehmen, was sie ist. Ein Wunsch zur und Akt der Balance.

In Zeiten der Müdigkeit und der erhitzten Debatten ein schöner Impuls für eine bessere Welt. Dem Scheitern aber stehe noch eine Neukodierung bevor, eröffne es doch eine Tür für das Bessermachen – beim nächsten Mal. Lagaay fragte: Was könne mehr Impulse für eine bessere Zukunft setzen, als Scheitern?

“Lebensfreude als Kategorie des Widerstandes”

Weniger ist mehr, eine Devise, die auf Industrialisierung bezogen auch dem Klima gut bekäme. Aber nicht nur diesem. Auch der Globale Süden könnte von einem Rückzug westlicher Industrienationen besonders profitieren, erklärte Dr. Boniface Mabanza Bambu in seinem Impuls “Der Globale Süden – Für immer abgehängt?” In besonderem Maße würde der globale Süden von einem Rückzug dieser Industrien aus dem afrikanischen Kontinent profitieren, denn noch immer werde der Kontinent in postkolonialem Stil als Rohstofflieferant ausgebeutet. Diese Abhängigkeiten müssten überwunden werden, so Bambu. Er plädierte für ein “Delinking”, ein Abkoppeln Afrikas, um sich im Nachgang neu – und auf eine eigene Weise – zu verbinden. Die Weltmarktorientierung müsse die Ausnahme werden. “Wie wollen wir leben?”, diese Frage sieht Bambu als leitend für seinen eigenen Kontinent. Es gehe darum, für jedes Land auf dem afrikanischen Kontinent die Strukturen zu schaffen, die es für ein gutes Leben brauche.

Boniface Mabanza Bambu kam auch auf die Entwicklung des afrikanischen Kontinents zu sprechen, wie er sich in europäischen Narrativen (der Abhängigkeiten) dargestellt habe. In der Zeit der 1990er Jahre bis 2000 sei oft von “den armen Abgehängten” die Rede gewesen. Die westliche Welt habe versucht, auf Entscheidungsträger in Afrika einzuwirken, um sie dazu zu bringen, sich für ausländischen Investitionen attraktiver zu machen. Ab 2000 sei zunehmend in den Kontinent investiert worden, der Rohstoffsektor etwa verzeichnete hohes Wirtschaftswachstum, auch die Infrastruktur habe sich dadurch verbessert. Zugleich gingen aber andere Sektoren zurück im Wachstum und es kam zu einer deutlichen Umweltverschmutzung, die in Europa überhaupt nicht spürbar ist. Auch gesundheitliche Schäden seien längst nachgewiesen, wie etwa durch den Platinabbau in Südafrika. Der Rohstoffabbau in Afrika habe eine Katastrophe verursacht. Bambu erzählte von seiner Kindheit in Kinshasa, einer fruchtbaren Region, in der damals eine Vielzahl an Nahrungsmitteln angebaut wurde und genug Essen für die Einwohner:innen lieferte. Mit der Konzentration auf den Bergbau jedoch sei die Landwirtschaft zurückgegangen. Deswegen hungern heute Menschen in Kinshasa. Die Macht der Konsument:innen sei begrenzt durch viele Faktoren wie etwa Zeitfaktor, Wissen oder Kaufkraft. Diese Macht müsse verbunden werden mit der Macht der Bürger:innen. Es brauche außerdem eine Differenzierung, eine Rettung des Subjektseins der anderen als auch neue Gemeinschaften, so Bambu. “Nur in Gemeinschaften können wir Prozesse anstoßen, die Veränderungen bewirken.”

Die Kraft für Veränderungen kommt nicht von großen Unternehmen, ist Bambu überzeugt. Vielmehr entstehe sie durch die Begegnung mit Menschen, die positiv in die Welt sehen. Er formulierte “Lebensfreude als Kategorie des Widerstandes”. Entscheidende Faktoren für Veränderungen seien nicht planbar – und genau hier begegne ihm Gott.

“Das Unerwartete zulassen”

“Vertraut den neuen Wegen.” Ausgehend von diesem Lied führte Prof. Dr. Reiner Anselm, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied des Kuratoriums der Evangelischen Akademie Tutzing, auf den Gedanken der Zukunft als Entgegenkommen Gottes hin. Er referierte unter dem Titel “Das Unerwartete zulassen. Zur Rolle des christlichen Glaubens für die Gesellschaft”.  Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das wissenschaftstheoretische Moment, dass datenbasierte Zukunftsprognosen die Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft extrapolieren. Wenn aber die Zukunft aus den Daten der Gegenwart und Vergangenheit errechnet werde, blieben diese Prognosen notgedrungen dem bereits Bekannten verhaftet.

Anders gefragt: Wie kommt Neues und Unerwartetes in unser Bild von der Zukunft, wenn wir sie lediglich als Fortsetzung des Vergangenen berechnen? Zukunft degeneriere so zur kausalen Fortsetzung des Gewesenen. Hier könne der christliche Glaube eine gesellschaftliche Ressource – unter mehreren – sein, die den Blick freihält für den unerwarteten Verlauf der Prozesse – den Zufall und – theologisch gesprochen – das Wunder. In diesem Sinne stellte er in seinem Vortrag die provokante Frage “Haben wir noch Zukunft?” – verstanden als echte, offene und völlig unbeschriebene Zukunft. Denn das apokalyptische Denken der Gegenwart führe oft gerade zu einem Verlust dieses Zukunftsgedankens.

Ohne die notwendige Prognostik verabschieden zu wollen, die nötig sei, um in der Gegenwart angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen Handlungsorientierung zu haben, halte der Glaube die Zukunft offen für das Unerwartbare und letztlich für Kreativität. Als ecclesia semper reformada können die Kirche so zur Schule des Neuen werden. Kirchen müssten mit Leben gefüllt sein und nicht zum Mausoleum werden. Spiritualität heißt in diesem Sinne “lernen” – wie hier in einer Akademie, gemeinsam.

 “Eine Ökonomie, die sich als explizit als gesellschaftsgestaltend begreift”

Für eine Revolution ökonomischer Kreisläufe plädierte Prof. Dr. Walter Ötsch, Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz in seinem Vortrag “Wie wir Ökonomie in Krisenzeiten neu gestalten müssen”. Er fasste sein darin geäußertes Ansinnen in diesem Worten zusammen: “Die Gesellschaft befindet sich in einer multiplen Krise, wie die Krisen der Umwelt. Sie haben mit dem Wirtschaftssystem zu tun und sollten von einer ökonomischen Theorie reflektiert werden. Die herrschende neoklassische Standardtheorie kann diese Aufgabe nicht hinreichend bewältigen – auch deswegen, weil sie nur auf individuelles Verhalten fokussiert ist und über keinen Krisen- und keinen Gesellschaftsbegriff verfügt. De facto ist sie selbst in ihren Wirkungen ein Teil der aktuellen gesellschaftlichen Problematik.

Eine neue Ökonomie muss demgemäß das Wirtschaftssystem als eingebettet in die Gesellschaft und in ihren Interaktionen erfassen können. Sie sollte auch in der Lage sein, den Beitrag der Standardtheorie zu den aktuellen Krisen zu erkennen, zum Beispiel in ihrer Beschränkung auf die Unterordnung ökologischer Probleme in ein Frame “des Marktes”. Dies erfordert eine Ökonomie, die sich als explizit gesellschaftsgestaltend begreift. Sie muss auch über ein Konzept der imaginativen Fähigkeiten des Menschen verfügen, wie dies zum Beispiel Adam Smith in seiner Theory of Moral Sentiments formuliert hat. Denn die Wirtschaft ist ungemein kreativ, fast alle wirtschaftlichen Aktivitäten werden im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft entworfen. Zu fragen ist, wie Menschen Zukünfte simulieren und wie diese Fähigkeit für die anstehende sozioökologische Transformation bewusst gemacht und systematisch geschult werden kann – ansatzweise wird das im Unterricht an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung versucht.”

Den krönenden Abschluss der Tagung setzte Christian Springer, Kabarettist und Autor: “Alle machen. Keiner tut was! Warum politisches Kabarett die Resilienz fördert”. Ebenso amüsant wie ernst sprach er von der Notwendigkeit des Humors in den Zeiten der Krise. Er erinnerte an ein Zitat von Erika Mann. Sie habe gesagt: “In der Zeit zwischen zwei Kriegen, da darf man nicht Kabarett machen, da muss man Kabarett machen!” Jedoch: Wie lange dauern Kriege? Christian Springer erinnerte an die letzte Rate der Reparationszahlungen Deutschlands für den Ersten Weltkrieg am 3. Oktober 2010, der in seinen Augen erst das offizielle Ende des Krieges beschließe. Auch in den Köpfen der Menschen dauerte Krieg oft über Generationen hinweg noch an, selbst wenn die Waffen längst ruhen – etwa in Kriegstraumata der eigenen Ahnen.

Christian Springer appellierte an die Solidarität und das Verbundensein der Menschen untereinander – auch wenn man nicht immer wisse, was passiere. Der Impuls des Kabarettisten stellte auf diese Weise einen gelungenen Abschluss der Tagung dar: So ernst die Themen, die besprochen wurden, mitunter waren, so warm waren Stimmung und Miteinander. Man müsse “das Gestern und das Vorgestern anschauen, um das Morgen zu verstehen”. Ein kleiner Impuls für eine bessere Welt wurde am letzten Septemberwochenende im Tutzinger Schloss modellhaft gelebt.

Hinweis: Die letzte Tagung im Jubiläumsjahr “Evangelische Kirche – wohin?” findet vom 09.-11. Dezember 2022 statt. Weitere Informationen unter www.ev-akademie-tutzing.de.  

 

 

Dorothea Grass, Dr. Hendrik Meyer-Magister, Alix Michell, Julia Wunderlich, Dr. Martin Waßink

(Mitarbeit: Michael Götzer)

Bild: Die Aktivistinnen Anja Paolucci und Sonja Ziegler von Fridays for Future engagieren sich im Kampf gegen die Erderwärmung und für mehr Klimagerechtigkeit. Im Gespräch mit dem Publikum und unter der Moderation von Julia Wunderlich, Leiterin des Referats Jugendpolitik & Jugendbildung (Junges Forum), forderten sie bei der Tagung “Imagine – Impulse für eine bessere Welt” ein Anheben der Klimaziele sowie ein aktives Einfordern der Ziele, die bisher bereits festgelegt wurden. (Foto: Haist / eat archiv)

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