Für wirkliche Bildungsgerechtigkeit braucht es mehr Maßnahmen
Sagithjan Surendra gründete 2017 mit 18 Jahren das Aelius Förderwerk. Die Ziele sind faire Bildungschancen und soziale Mobilität für benachteiligte junge Menschen. Wie das über ein Mentoringsystem genau funktioniert und was es für die gesamte Bildungspolitik bräuchte – dazu spricht Surendra in der Politikwerkstatt der Evangelischen Akademie Tutzing – und vorab hier im Interview.
Alexander Müller und Julia Wunderlich: Herr Surendra, gerechte und chancengleiche Bildung ist das Ziel in der Bildungspolitik. Wie weit existieren Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit wirklich?
Sagithjan Surendra: Gerade in Deutschland haben wir noch einen weiten Weg zu gehen. Wir haben ein Bildungssystem, das auf dem Papier Durchlässigkeit bietet, aber in der Realität weit hinter vergleichbaren Ländern liegt. Das Ergebnis sehen wir darin, dass soziale Mobilität und der Bildungsaufstieg benachteiligter junger Menschen im Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Deutschland mit am längsten dauert. Gerade in der Pandemie haben wir erneut gesehen, wie der Zugang zu Bildung und Unterstützung auf dem Bildungsweg von finanziellen, sozialen und familiären Umständen geprägt ist. Auf einem ohnehin sehr steinigen Weg hin zu Chancengleichheit, haben uns die letzten zwei Jahre weit zurückgeworfen. Der drohende Mangel an Lehrkräften wird diese Problematik noch weiter verschärfen.
Mit welchen Problemen haben Kinder und Jugendliche, die Bildungsungerechtigkeit erleben, ganz konkret zu kämpfen? Warum ist unser Bildungssystem nicht so durchlässig, wie es scheint?
Ein grundsätzliches Problem ist, dass zwischen verschiedenen Bildungswegen zwar Durchlässigkeit konzeptionell existiert, aber in der Praxis wir mit einem mehrgliedrigen Schulsystem eine Klassifizierung befördern und Bildungswege in Einbahnstraßen denken. Speziell für junge Menschen, die in herausfordernden sozialen und finanziellen Umständen aufwachsen, kommt hinzu, dass ihnen Ansprechpartner:innen außerhalb ihrer eigenen Lebensrealität fehlen, die ihnen Perspektiven und Umwege aufzeigen. Was oft vergessen wird: Schulbildung mag in Deutschland zwar kostenlos sein, aber Fahrtkosten, Teilnahme an der Studienfahrten, der Besuch eines Sportvereins oder Musikunterrichts – kurz, all die Dinge, die gesellschaftliche Teilhabe ausmachen – scheitern am Geldbeutel. Hinzu kommt, und das habe ich besonders in meiner eigenen Biografie gemerkt, dass sozialer Aufstieg auch immer mit einer Entfremdungserfahrung einhergeht. Kunst, Kultur, Gesellschaft – all das sind oft Sphären, die heute noch sehr homogen geprägt und selten inklusiv gestaltet sind. Hier werden entweder zu wenig Zugänge geschaffen oder solche, die nicht die Zielgruppe erreichen. Wir ergreifen z.B. mit Konzepten, wie dem Ganztag wichtige Maßnahmen, die aber allen Kindern gleichermaßen zugutekommen. Ich finde, dass wir für wirkliche Bildungsgerechtigkeit mehr Maßnahmen benötigen, die gezielt auf die Bedürfnisse derjenigen eingehen, die von Bildungsungerechtigkeit betroffen sind.
Sie haben mit 18 Jahren das Aelius Förderwerk gegründet. Damit sollen für benachteiligte junge Menschen faire Bildungschancen und soziale Mobilität erreicht werden. Wo genau setzt die Arbeit Ihres Förderwerks an?
Unser Kernangebot ist das Mentoring-Programm „Dialog Chancen“. Dabei begleiten wir Kinder und Jugendliche bis zu ihrem erfolgreichen Schulabschluss mit individuellen Mentor:innen. Diese Mentor:innen sind Wegbegleitung, vertrauensvolle Ansprechperson und vor allem Mutmacher:innen. Sie teilen ihre Erfahrung und ihr Netzwerk. Parallel zum Mentoring haben unsere geförderten Schüler:innen Zugang zu einem Jahresangebot an verschiedenen Online-Workshops, Wochenendveranstaltungen und Sommercamps, die ihnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und ihren Zugang zu Themen außerhalb ihrer eigenen Lebensrealität schaffen. Ergänzend zum Mentoring-Programm haben wir bundesweit Regionalgruppen mit Ehrenamtlichen, die vor Ort weitere Workshop- und Beratungsangebote anbieten. Darunter sind Workshops zum Thema Nachhaltigkeit, Schreibwerkstätten, Lernkompetenztrainings oder Beratungen zu Fragen rund um die erste Praktikumsbewerbung, Studienfinanzierung oder Fragen auf dem Weg in die Ausbildung. So unterstützen wir auch regional Schüler:innen abseits unseres Mentoring-Programms.
Wie kann Bildungsgerechtigkeit – auch außerhalb der Schule – gelingen?
Wir haben viele zivilgesellschaftliche Akteure wie Rock Your Life, Arbeiterkind.de oder Netzwerk Chancen, die mit erprobten Programmen, wie Mentoring, wirkungsvoll sozialen Aufstieg ermöglichen. Bildungsgerechtigkeit ist vor allem auch eine Frage der Perspektiven, die einem geboten werden, welches Wissen man über und welchen Zugang man zu Ressourcen hat und schlussendlich auch das eigene Netzwerk. An all diesen Punkten kann man innerhalb und außerhalb der Schule ansetzen und wirkungsorientierte, individuelle Unterstützung und Begleitung ermöglichen.
Wenn Sie Minister für Bildungsfragen wären, was würden Sie sofort in Deutschland ändern?
Der wichtigste Schritt wäre, die Zielsetzung unseres Bildungssystems zu überdenken und die Kompensation sozialer Benachteiligung in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben ein Bildungssystem, das in den letzten 100 Jahren kaum Reformen erfahren hat. Dadurch ist es heute überhaupt nicht an die gegenwärtigen Umstände und Herausforderungen angepasst. Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani skizziert in seinen Büchern, wie dieses Bildungssystem so Jahr für Jahr die bestehende soziale Ungleichheit reproduziert. Wenn wir den Auftrag unseres Bildungssystems neu denken, indem wir die Kompensation sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt rücken, können wir in diesem Rahmen auch Schule neu denken und nicht nur als Wirkungsort von Lehrkräften, sondern genauso von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, Sozialpädagog:innen, Psycholog:innen usw. begreifen. Hier finde ich es besonders wichtig, die zivilgesellschaftlichen Akteure einzubinden, die sich gezielt mit dem Thema Chancengleichheit befassen. Zu guter Letzt sehe ich großes Potential im Abbau der Mehrgliedrigkeit und im Ausbau der Ganztagsangebote.
Die Politikwerkstatt vom 07. bis 09. Oktober 2022 hat zum Ziel, Blitzlichter auf aktuelle jugendpolitische Themen zu werfen. Mit Ihnen werden wir über Bildungsgerechtigkeit diskutieren. Sie haben einen interaktiven Zugang zum Thema geplant – verraten Sie vorab, was das Publikum erwartet?
Ich habe oft das Gefühl, dass wir alle uns für Chancengleichheit einsetzen möchten, aber nur wenige nachvollziehen können, was ein solches systemisches Problem wirklich für den Lebensweg des Einzelnen bedeutet. Ich habe in meiner Zeit beim Aelius Förderwerk etliche individuelle Biografien begleiten dürfen und werde darin einen Einblick geben. Das soll Ausgangspunkt sein, um sich mit den eigenen Herausforderungen und denen anderer, aber ebenso sich mit Privilegien auseinanderzusetzen, um so einen interaktiven Zugang zum Thema zu schaffen.
Interview: Julia Wunderlich, Studienleiterin Jugendpolitik & Jugendbildung (Junges Forum), Evangelische Akademie Tutzing und Kooperationspartner Alexander Müller, Referatsleiter Lernorte – Europa und Internationale Politik, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit sowie Dorothea Grass, Studienleiterin & Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Evangelische Akademie Tutzing
Zur Person:
Sagithjan Surendra ist Gründer und Vorstandsvorsitzender des Aelius Förderwerks. Zudem ist er Geschäftsführer und Co-Gründer von Diginary Consulting, einer Digitalisierungsberatung für Non-Profits. Weitere Informationen zu Surendra finden Sie auf seiner Homepage.
Hinweis:
Sagithjan Surendra ist Referent in der Politikwerkstatt vom 07. bis 09. Oktober 2022 im Jungen Forum der Evangelischen Akademie Tutzing. Die Tagung findet in Kooperation mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit statt. Unter diesem Link finden sich alle Informationen zum Programm und den Anmeldemodalitäten.
Bild: Sagithjan Surendra (Foto: © Surendra)