“Wir müssen unser Bild Russlands korrigieren”

In unserer Online-Veranstaltung über “Die Anstalt – Politische Satire im Schloss” ging es am 3. Mai um den Krieg in der Ukraine und damit auch um das Thema der “Anstalt”-Folge vom 5. April. Wie konnte es zum Angriffskrieg Russlands kommen? Darüber diskutierte Akademiedirektor Udo Hahn mit Dietrich Krauß und Kateryna Stetsevych.

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Hätte man den Krieg Russlands gegen die Ukraine kommen sehen können? Und wenn ja, warum waren dann doch viele Menschen in Europa davon überrascht? In der Folge der ZDF-Satiresendung “Die Anstalt” vom 5. April (unter diesem Link abrufbar) stellte sich das Kabarettisten- und Autorenteam um Max Uthoff und Claus von Wagner diesen Fragen. Zum Autorenteam der Sendung gehört auch Dr. Dietrich Krauß. Mit ihm und der Ost- und Mitteleuropa-Expertin Kateryna Stetsevych arbeitete Akademiedirektor Udo Hahn das Thema in einer Online-Debatte am 3. Mai auf. Dabei ging es auch um den offenen Brief in der Zeitschrift “Emma” an Bundeskanzler Olaf Scholz, um die Frage, wo eigentlich Zentraleuropa zu verorten ist, warum so wenig über die ukrainische Kultur und Geschichte im Westen Europas bekannt ist – sowie um die heutigen Sicherheitsinteressen ehemaliger Sowjetrepubliken.

Kateryna Stetsevych ist Ukrainerin und lebt in Berlin. Sie studierte Germanistik, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Czernowitz/Tscherniwzi und an der Freien Universität Berlin und ist heute als Dozentin und Kuratorin für das Goethe-Institut, die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) sowie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig. Seit 2006 initiiert sie internationale Kultur- und Literaturprojekte.

“Wir müssen unser Bild Russlands korrigieren”, sagte sie in der Online-Gesprächsrunde. Für sie sei die Entwicklung nicht überraschend gekommen. Die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, der Krieg im Donbass, die faschistische und nationalistische Rhetorik der russischen Staatsführung sowie die Desinformationskampagnen des Landes – all diese Entwicklungen hätten sich über mehrere Jahre hinweg und vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzogen. Es habe viele Anzeichen gegeben, so Kateryna Stetsevych und fügte auch hinzu, dass es wohl in der Natur des Menschen läge, drohende Gefahren nicht wahrzunehmen, um auch die allerletzte Hoffnung nicht zu verlieren, dass es zu einem Krieg kommt. Sie berichtete, dass etwa die Autorin Katja Petrowskaja bereits 2014 über die Geburt eines Faschismus in Russland geschrieben habe, der aus Siegesparolen entstanden sei.

Die frühere Sowjetunion ist nicht Russland

Auf deutscher Seite habe es sowohl eine “Rot-Rot-Schwäche” der Linken gegeben, aber auch der CDU und SPD. So hätten die Linken den Fehler begangen, die frühere Sowjetunion mit dem heutigen Russland gleichzusetzen. – Fatal, denn Russland sei “heute ein nationalgesinnter, totalitärer Staat und auch keine kapitalistische Autokratie mehr”.

“Die Linke in Deutschland hat es verpasst, ein Update zu machen”, sagte Kateryna Stetsevych. Sozialistisch sei heute in Russland nichts mehr. Mit den sogenannten “linken Idealen”, der Faszination für die Sowjetunion und ihrer Verknüpfung zu Russland kann sie nur wenig anfangen. Als Kind, das in der früheren Sowjetunion aufwuchs und zuweilen für zwei Flaschen Milch drei Stunden anstehen musste, habe sie nicht gesehen, dass der Sozialismus als solcher gelebt worden wäre.

Als einen sozialistischen Moment im Sinne des gemeinsamen Kämpfens für gemeinsame Rechte, unabhängig von sozialer Schicht, religiöser Zugehörigkeit und Sprache, habe sie dagegen die Momente der orangenen Revolution in Kyiv erlebt.

Auch “Anstalt”-Autor Krauß sieht es als Fehler, dass die Linke den russischen Imperialismus über eine lange Zeit ignoriert habe. Die Sowjetunion habe als Projektionsfläche für innerdeutsche Debatten hergehalten – jedoch, das seien eigene Projektionen gewesen.

Den Ländern in Zentraleuropa eine Stimme geben

Im Verlauf der Online-Debatte kommt die Ost- und Mitteleuropa-Expertin Stetsevych noch auf einen weiteren Punkt zu sprechen: das fehlende Interesse Westeuropas an den Staaten, der Geschichte und den Kulturen der Länder in Zentraleuropa – sowie das fehlende Bewusstsein darüber, dass Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei zu Zentraleuropa gehören, genauso wie auch die Ukraine. Der tschechische Autor Milan Kundera habe bereits 1983 geschrieben: “Die Mitte liegt ostwärts” (Aufsatz erschienen in der französischen Zeitung “Le débat” unter dem Titel “Un Occident kidnappé”, in Deutschland unter dem Titel “Die Tragödie Zentraleuropas” veröffentlicht). Zu Zeiten des Kalten Krieges habe die Sowjetunion diese Länder verschluckt und damit unsichtbar gemacht.

Eine Emanzipation habe das Baltikum vollzogen – doch mit diesen Ländern über das Verhältnis zu Russland und Europa zu reden, sei bislang nicht geschehen. Auch Parteien wie die CDU und SPD hätten das Baltikum bislang übersehen. “Es ist höchste Zeit, mit den kleinen Ländern in Zentraleuropa zu reden”, findet Kateryna Stetsevych.

Auch das Sicherheitsinteresse von Ländern wie Estland, Lettland und Litauen – oder eben auch der Ukraine sollte nicht länger vernachlässigt werden in den öffentlichen und politischen Debatten. Ein Sicherheitsinteresse, das legitim ist, so Stetsevych. Zu oft rutsche die öffentliche Auseinandersetzung hier ab in eine Nato-Russland-Dichotomie. Die Stimmen der kleineren Länder gingen dabei unter.

Auch Dietrich Krauß spricht von einem “falschen Bild”, in dem hochgerüstete Armeen sich an der “Grenze zu Russland” gegenüberstehen. Für die Vorbereitung der “Anstalt”-Folge am 5. April habe er unter anderem die Arbeit der Historikerin Mary Elise Sarotte (Johns-Hopkins-University, Washington und Gastprofessorin am Center for European Studies der Harvard-University ) zur Geschichte der Nato-Osterweiterung als hilfreich empfunden.

Der “koloniale Moralismus” des offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz

Auch auf die aktuelle Waffenlieferungsdebatte in Deutschland und die Initiative des offenen Briefes in der Zeitschrift “Emma”, den zahlreiche bekannte Künstler:innen und Intellektuelle unterzeichnet hatten – als auch auf die Repliken darauf (etwa in ZEIT Online am 4. Mai, unterzeichnet unter anderem von Maxim Biller, Herta Müller und dem Publizisten Ralf Fücks oder auch der “Zeit”-Gastbeitrag von Herfried Münkler am 7. Mai 2022), kam die Online-Runde zu sprechen.

Kateryna Stetsevych äußerte ihre Enttäuschung über den offenen Brief, der am 29. April in der “Emma” erschienen war und der Bundeskanzler Olaf Scholz auffordert, “weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine” zu liefern. Sie kritisierte den “kolonialen Moralismus” des Schreibens und stellte den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern die Frage: “Wo wart Ihr Intellektuellen und wo waren Eure Moralvorstellungen in den letzten Jahren?”

Nicht der Krieg in der Ukraine, nicht die Folter, die Vergewaltigungen und der Mord stünden im Zentrum des Briefes, sondern nur “eigene Befindlichkeiten und die Verfasstheit des Westens”, so Stetsevych. Der schwächere Mensch werde dabei übergangen und das finde sie “einfach zynisch”.

Stetsevych hätte sich von den Verfasserinnen und Verfassern des Briefes gewünscht, dass auch die Sicht von Osteuropaexpert:innen und Menschen aus der Ukraine berücksichtigt worden wäre, genauso wie eine feministische Perspektive. Sie sieht eine “eine totale Objektivierung in der Logik der großen Imperien”, die durchbrochen werden müsse.

Welche Antwort haben Demokratien auf das “absolut Böse”?

Dietrich Krauß sieht das ähnlich. “Es ist auch unser Kampf, der in der Ukraine gefochten wird”, sagte er. Möglichkeiten zum Verhandeln sieht er keine – erst recht nicht mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Es fehle ihm schlichtweg die Fantasie, sich auszudenken, wer sich mit Putin noch an einen Tisch setzen mag. Die einfachen Formeln der Friedensbewegung gelte es angesichts der Realität in der Ukraine nun zu hinterfragen.

“Ich glaube, man muss sich langsam der Realität stellen”, meinte Kateryna Stetsevych. Es sei klar, dass Europa eine diplomatische Lösung bevorzuge und zugleich unfair, den Regierungsparteien in Deutschland Kriegstreiberei zu unterstellen, wenn sie Waffen an die Ukraine liefert.

Viel wichtiger sei es, eine Antwort darauf zu finden, wie Demokratien “auf etwas komplett Zerstörerisches, Destruktives, auf ein System, dass sich nie an Regeln hält” reagieren können. Welche Antwort haben Demokratien auf das “absolut Böse”?

Es sei höchste Zeit zur kritischen Selbstreflexion. “Von der Selbstverständlichkeit, dass Demokratie vom Himmel fällt, sollten wir uns schnell verabschieden. Es ist ein hartes Stück Arbeit, die Demokratie auch jeden Tag zu verteidigen.” Dass dabei manchmal Gewalt eingesetzt werden muss, sei ein Punkt der oft zu schnell weggewischt werde.

Dorothea Grass

 

Hinweis:

Zum Mitschnitt der Debatte auf unserem YouTube-Kanal gelangen Sie hier.

Die Folge sowie den Faktencheck der ZDF-“Anstalt”vom 5. April 2022 mit zahlreichen Quellenangaben können Sie hier abrufen.

Bild: “Die Anstalt”-Debatte an der Evangelischen Akademie Tutzing: mit Udo Hahn mit Dietrich Krauß und Kateryna Stetsevych (Foto: eat archiv)

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