Risiko und Resilienz
Wie werden gesellschaftliche Risiken analysiert und politisch gestaltet? Wie werden Risiken auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen verteilt? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Gerechtigkeit und wie kann Resilienz entstehen? Über diese Fragen diskutierten Dr. Boniface Mabanza Bambu, Dr. Pia-Johanna Schweizer und Prof. Dr. Richard Sturn bei einer Online-Veranstaltung am 21.02.2022, die den Auftakt zu einer im April 2023 stattfindenden Tagung bildet. Ein Bericht.
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Viele Risiken sind heute global und zunehmend unumkehrbar. Gleichzeitig sind Gesellschaften interdependent und dadurch krisenanfällig. Gerade die Corona-Pandemie und der Klimawandel führen uns aktuell besonders deutlich vor Augen, dass Krisen und ihre Auswirkungen häufig nicht an Staatsgrenzen gebunden sind. In der Online-Veranstaltung vom 21.02.2022 teilten Dr. Boniface Mabanza Bambu, Dr. Pia-Johanna Schweizer und Prof. Dr. Richard Sturn ihre Impulse zu gesellschaftlichen Risiken und wie wir lernen können, mit diesen umzugehen.
Welche Bedeutung haben systemische Risiken für die Gesellschaft und welche Herausforderungen bringen sie mit sich? Dieser Frage ging Dr. Pia-Johanna Schweizer nach, Leiterin der Forschungsgruppe “Systemische Risiken” und Sprecherin des Forschungsbereichs “Globale Implikationen sozio-technischen Wandels” am IASS Potsdam. Systemische Risiken – gemeint sind Risiken, die basale gesellschaftliche Funktionen wie die Mobilität oder das Gesundheitssystem gefährden – seien domänenübergreifend und von komplexen Wechselwirkungen begleitet. So begünstige ein Risiko das nächste, ein “Kaskadeneffekt” an Auswirkungen entstehe, ebenso wie immer enormere Schadensgrößen. Herausfordernd seien vor allem die räumliche und zeitliche Entkopplung von Ursache und Wirkung sowie die Risikowahrnehmung, die von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausfalle. Dadurch würden systemische Risiken tendenziell unterschätzt: Häufig verlasse man sich beispielsweise darauf, dass die nahe Zukunft neue technische Innovationen und damit Lösungswege bringe. Während diese systemischen Risiken in einer globalisierten, vernetzten Welt unvermeidbar seien, verwies Dr. Pia-Johanna Schweizer darauf, dass es einen Paradigmenwechsel weg vom Regieren durch Steuerung, hin zu Verständigungs- und Verhandlungsprozessen brauche – eine partizipative, transparente Risiko-Governance, die sich einerseits an Nachhaltigkeit und andererseits an gesellschaftlicher Resilienz orientiert.
Die gute Nachricht: Resilienzen können gestärkt werden
Warum sind Risiken unvermeidbar? Diese Aussage von Dr. Schweizer griff Prof. Dr. Richard Sturn auf, Leiter des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft sowie des Graz Schumpeter Centre der Universität Graz. Moderne Gesellschaften seien in Subsysteme gegliedert, die durch Schnittstellen miteinander verbunden sind. Dabei müssten im Sinne kapitalistischer Rationalität und sozial-ökologischer Stabilität alle Systeme dem ökonomischen System “zuarbeiten”, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. Das Problem: Es gäbe keinen Master-Mechanismus, der das sicherstelle. Dadurch ergäben sich multiple Krisen und Kipppunkte. Somit sei es womöglich gar nicht von Vorteil, dass der öffentliche Sektor zunehmend Funktionslogiken des privaten Sektors übernehme.
Risiko erlaube, im Kontrast zu Unsicherheit, eine Wahrscheinlichkeitsverteilung und daraus resultierend die Bildung von Erwartungswerten sowie die Herstellung von Sicherheit. Resilienz gegen Risiko könne auf verschiedene Art und Weise gefördert und gestärkt werden: Einerseits durch Vielfalt und Versatilität in Mechanismen und Akteuren – das politische System müsse in seiner Funktionsweise zum Beispiel nicht zwangsläufig dem ökonomischen gleichen. Außerdem müsse man ein “Second Best”-Denken anstreben anstatt rigide an Ideallösungen festzuhalten: Wenn Plan A nicht aufgeht, müsse man umdenken und eine komplett neue Route planen, allerdings ohne dabei die eigenen Ideale zu verraten.
Dass es keine Universallösungen gibt stellte auch Dr. Boniface Mabanza Bambu fest, Literaturwissenschaftler, Philosoph und Theologe an der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA). Am Beispiel der Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent zeigte er dies eindrücklich auf. Weil man in Europa zu Beginn der Pandemie noch eine Katastrophe für Afrika vorhergesagt habe, hätten zahlreiche afrikanische Regierungen die Infektionsschutzmaßnahmen westlicher Staaten reproduziert, von Lockdowns bis hin zur Einstellung des internationalen Flugverkehrs. Aber wie sinnvoll sind diese Maßnahmen dort, wo Menschen zu großen Teilen im informellen Sektor tätig und davon abhängig sind? Isolation, so Dr. Mabanza Bambu, sei für viele Menschen keine Option gewesen – ausgerechnet die Maßnahmen, die das Leben der Bürger und Bürgerinnen schützen sollten, hätten ihnen jegliche Verdienstmöglichkeit und damit in gewisser Hinsicht auch ihr Leben geraubt. Gleichzeitig habe sich die Bevölkerung unter genau diesen Umständen als resilient erwiesen: Die Menschen hätten gelernt, die Gefahren der Pandemie ernst zu nehmen, ohne in fatalistische Denkmuster zu verfallen. Resilienz bedeute, angesichts der Verletzlichkeit, die zum Leben dazugehöre, das Leben dennoch klar zu bejahen. Genau diese Resilienz hätten die Menschen in Afrika erreicht, sicherlich auch aufgrund ihrer Erfahrungen in der mitunter durch Sklaverei, Kolonialismus und Ausbeutung geprägten Geschichte des Kontinents.
Auch Dr. Mabanza Bambu ging auf die Unvermeidbarkeit von Risiken ein. Zur Komplexität heutiger Gesellschaften gehöre ebenfalls die Frage danach, wie Institutionen ihre Interessen artikulieren und durchsetzen. Verschiedene Zielsysteme, beispielsweise die Implementierung von Menschenrechten oder Umweltschutzmaßnahmen, konkurrierten miteinander, wobei sich häufig die Ideen durchsetzten, die von den mächtigsten Institutionen vertreten werden: Im Rahmen des Green New Deals plante die Europäische Union die Nutzung von Ressourcen aus Afrika für den Ausbau erneuerbarer Energien, z.B. Kobalt und Lithium. Konsultiert und in die Verhandlungen mit eingebunden wurden afrikanische Vertreter und Vertreterinnen aber nicht.
Was kann man also mitnehmen aus diesem Diskussionsabend? Die Vortragenden waren sich einig, dass systemische Risiken unvermeidbar seien und man lernen müsse, mit ihnen umzugehen. Resilienz fiel hier als Begriff besonders häufig – sie müsse gestärkt werden durch Maßnahmen wie den Einbau von Puffern und Spielräumen, durch subsidiäre Systeme, durch eine starke Regionalisierung des Handels sowie durch das Lernen aus Fehlern. Letztlich gehe es um die Bejahung des Lebens. Die Gesprächsrunde bildete den Auftakt zu einer Tagung zum Thema Risiko & Resilienz, die voraussichtlich von 21. bis 23. April 2023 an der Evangelischen Akademie Tutzing stattfinden wird.
Alessia Neuner
Hinweis: Ein Mitschnitt der Kurzvorträge des Abends kann unter diesem Link auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing abgerufen werden.
Bild: Screenshot aus der Online-Gesprächsrunde der Evangelischen Akademie Tutzing am 21.2.2022 (eat archiv)