Afghanistan – mehr als ein außenpolitisches Wahlkampfthema

In unserem Online-Talk zur ZDF-Sendung “Die Anstalt” vom 5. Oktober sprach Akademiedirektor Udo Hahn mit Dr. Dietrich Krauß, einem der Sendungsmacher, und Thomas Ruttig, dem Kodirektor des Afghanistan Analysts Network. Thema der Sendung und der Online-Diskussion am 12. Oktober war die Situation in Afghanistan und die Bildung der neuen deutschen Bundesregierung.

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Konzentrierte sich der Bundestagswahlkampf zu stark auf Personen und zu wenig auf Inhalte? Inhaltlich betrachtet, scheint eines offensichtlich: außenpolitische Themen standen zu selten zur Debatte. Dietrich Krauß, einer der Autoren der ZDF-Sendung “Die Anstalt”, wollte mit der zuletzt erschienen Folge vom 5. Oktober (hier ansehen) einen Akzent setzen und die Bundestagswahl mit einem ebenso brisanten wie aktuellen außenpolitischen Thema verknüpfen: Afghanistan. Dieses Land kennt Thomas Ruttig seit vielen Jahren und es ist ihm zur zweiten Heimat geworden. Er nutzt seine Expertise in der Funktion des Kodirektors des unabhängigen Thinkthanks Afghanistan Analysts Network.

Im Blick auf die Bundestagwahl machte Krauß anhand der Vermögenssteuer klar, welche großen Differenzen oftmals zwischen dem Wählerwillen und den politischen Realitäten liegen. Ein weiteres Thema war, dass in Deutschland 14 Prozent der hier lebendenden Menschen nicht wählen dürfen (mehr dazu hier). Dass diese Steuern und Beiträge an den deutschen Staat abführten, ohne Mitbestimmungsrechte zu haben, hält er für einen Missstand.

Auch auf die aktuellen Sondierungen zwischen SPD, Grünen und FDP kam das Gespräch zwischen Dietrich Krauß, Thomas Ruttig und Moderator Udo Hahn. Welche Bedeutung eine solches “Ampel-Bündnis” für die deutsche Außenpolitik haben werde, mochten beide Gäste nicht beurteilen – vieles sei hier noch unklar. Beide erinnerten daran, dass die Grünen die Militärintervention Anfang der 2000er Jahre am Hindukusch unter der Schröder-Regierung mitgetragen hatten.

Dass sich eine islamistische Internationale herausbilden konnte, sieht Ruttig als unmittelbare Folge von 9/11, dem Vergeltungskrieg der US-Regierung in Afghanistan – aber auch der hervorgegangenen Militärinterventionen von sowjetischer Seite.

Kritisch beurteilten beide die Art und Weise, wie über Afghanistan debattiert werde – sowohl in der Bevölkerung wie in den Medien. Die Berichterstattung sei nicht selten zu schwarz-weiß gewesen. Als Beispiel führte Dietrich Kraus Zweckbündnisse an, die die alliierten Kräfte in ihrem Demokratisierungsbestreben mit “Warlords und Antidemokraten” eingegangen seien – über die aber kaum berichtet worden sei.

Positionen wie die der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischöfin Margot Kässmann, die 2010 mit ihrem Kommentar “nichts ist gut in Afghanistan” für Aufsehen sorgte, und eine Stärkung der Zivilgesellschaft gefordert hatte, seien zu Unrecht verlacht worden. Heute sei man, so Ruttig, zu Verhandlungen mit den Taliban gezwungen.

Thomas Ruttig sah während seiner langen Aufenthalte in Afghanistan zeitweise eine große Rückendeckung für die Demokratie in der Bevölkerung. Sie hätte “das Schicksal ihres Landes in die eigenen Hände nehmen wollen”. Er kritisierte den amtierenden US-Präsidenten Joe Biden für seine Aussage, die Afghanen hätten irgendwann einfach nicht mehr kämpfen wollen. Einen solch selbstmörderischen Kampf aufzunehmen, dazu gab es keine Bereitschaft – nachdem man den afghanischen Soldaten bereits mit dem mit den Taliban ausgehandelten Rückzugsabkommen in den Rücken gefallen war.

Ob die Evaluation und Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes innerhalb der Bundesregierung unvoreingenommen vonstattengehen kann, sieht Thomas Ruttig mit Skepsis.

Es bleibt die Frage nach der zukünftigen Zusammenarbeit mit Afghanistan und die Hoffnung, dass ein Bürgerkrieg ausbleibt. “Die Taliban werden schnell merken, dass sie nicht in der Lage sind dieses Land zu regieren, in dem 90 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze zu fallen drohen”, meinte Ruttig.

Karl-Benedikt Schäfer /dgr/ha

Hinweis:
Auf unserem YouTube-Kanal können Sie den Video-Mitschnitt der Online-Debatte mit Dietrich Krauß und Thomas Ruttig abrufen.

Weitere Informationen zum Thema:

Emran Feroz: “Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror”, Westend Verlag, 2021  (223 Seiten, 18 Euro)

Faktencheck zur Sendung “Die Anstalt”

Bild: Udo Hahn, Thomas Ruttig und Dr. Dietrich Krauß in der Online-Debatte zur ZDF-“Anstalt” vom Oktober 2021 (Screenshot eat archiv)

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