Ist Europa auf dem Weg zu 1,5-Grad-Lebensstilen?
Ist Europa auf dem Weg zu 1,5-Grad-Lebensstilen?
Die Europäische Union will bis 2050 klimaneutral sein. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln: Wenn bis 2030 keine weitreichenden Emissionsminderungen erreicht werden, wird das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu erreichen sein. Die politischen Entscheidungsträger sollten daher nicht nur Ziele setzen, sondern mutige und wirksame politische Maßnahmen durchsetzen, die Gerechtigkeit und Wohlergehen in den Vordergrund stellen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien schildern in diesem Blogbeitrag, warum die mit dem Lebensstil zusammenhängenden Emissionen sowie die Verteilungseffekte dabei von zentraler Bedeutung sind.
von Dr. Christoph Gran, Nora Kögel, Coline Lavorel, Dr. Sylvia Lorek und Sophia Tomany
Der jüngste Bericht des IPCC, Climate Change 2021: Naturwissenschaftliche Grundlagen des Klimawandels, wurde als “Alarmstufe Rot für die Menschheit” und als dringender Aufruf zum Handeln bezeichnet[1]. Der Planet steuert kontinuierlich auf die Temperaturanstiege von 1,5 bzw. 2 Grad zu[2]. Um innerhalb der planetaren Grenzen zu leben und zu wirtschaften sind beispiellose Emissionssenkungen erforderlich. Hierfür muss so schnell wie möglich ein umfassender Wandel in Gang gesetzt werden[3].
Die Europäische Union ist sich dieser Dringlichkeit bewusst und ist auf dem Weg, unsere Wirtschaft und unsere Lebensstile fundamental umzugestalten: mithilfe von regenerativen Energien anstatt fossil-basierten Energieträgern als Basis dieses Wandels. Um ein Europa zu schaffen, das innerhalb der planetaren Grenzen floriert, sollten die politischen Entscheidungsträger nicht nur Ziele setzen, sondern auch die Gelegenheit nutzen, mutige und wirksame politische Maßnahmen einzuführen. Gerechtigkeit und Wohlbefinden sollten zudem in den Vordergrund der notwendigen Transformation gestellt werden.
Mit dem Europäischen Green Deal und dem neuen “Fit for 55”-Paket, das die EU bis 2030 zu einer 55-prozentigen Emissionsreduzierung führen soll[4], hat die EU-Kommission die Emissionsreduzierung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings sollten die mit dem Lebensstil zusammenhängende Emissionen sowie Verteilungseffekte stärker in den Vordergrund gerückt werden. Insgesamt sind zwei Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen mit Verbrauch von Haushalten verbunden; dies bedeutet, dass eine ehrgeizige Strategie zur Emissionsreduzierung unsere kohlenstoffintensiven Lebensstile und das sie prägende kontextuelle und politische Umfeld mit einbeziehen muss[5].
Laut einer Studie der Aalto-Universität und des Institute for Global Environmental Strategies aus dem Jahr 2019 würde das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels eine enorme Verringerung des Kohlenstoff-Fußabdrucks erfordern, und zwar von derzeit weltweiten durchschnittlichen 6,3 tCO2e pro Person (8,6 tCO2e in der EU) auf 2,5 (tCO2e) bis 2030 und 0,7 bis 2050[6]. Die Politik hat in der Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des CO2-Fußabdrucks der Lebensstile gespielt, indem sie nicht-nachhaltige Konsummuster manifestiert hat, z. B. durch bestimmte Infrastrukturen (z. B. Investitionen in die Autoinfrastruktur, fehlende Radwege), Gewohnheiten (z. B. fleischhaltige Mahlzeiten in Schulkantinen) und falsche Preisanreize (z. B. billigere Flüge als Züge)[7]. Dementsprechend liegen große Chancen für Emissionssenkungen in der Umlenkung von Regulierungen: indem politische Instrumente eingesetzt werden, um ein Umfeld zu schaffen, in dem eine nachhaltige Lebensweise die bequemste, zugänglichste und erschwinglichste Art zu leben ist[8].
Wohlbefinden und soziale Gerechtigkeit stehen aus zwei Gründen im Mittelpunkt dieser Herausforderung. Zum einen ist die Verteilung der Kohlenstoffemissionen sehr ungleich, wobei die wohlhabendsten ein Prozent der Europäer für mehr als zehnmal mehr Treibhausgasemissionen verantwortlich sind als die unteren fünfzig Prozent[9]. Des Weiteren sind die Treibhausgasemissionen in den europäischen Haushalten mit geringerem Einkommen zurückgegangen, während sie in den Haushalten mit den höchsten Einkommen weiter ansteigen[10]. Diese Dynamik muss in den Strategien zur Emissionssenkung berücksichtigt werden, wenn diese Wirkung entfalten sollen. Zum anderen werden Lebensstile nicht nur durch das politische Umfeld geformt, sondern auch durch die Entscheidungen und das Verhalten der Bürger*innen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger “1,5-Grad-Lebensstile” sowohl breit unterstützen als auch aktiv mitgestalten, um die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit dieser Veränderungen zu gewährleisten[11]. Die jüngsten Beispiele von Klima-Bürgerräten in Frankreich und Deutschland, in Großbritannien und Irland zeigen, dass zufällig ausgewählte Bürger*innen bereit für Veränderungen sind und mutige politische Maßnahmen fordern: So etwa der deutsche Bürgerrat, der 100 Prozent Ökostrom bis 2035 und den Kohleausstieg bis 2030 fordert [12][13].
Trotzdem greift das “Fit for 55”-Paket der EU, welches zwar als ein vielversprechender Schritt in Richtung einer nachhaltigen Zukunft gewertet werden kann, noch nicht weit genug. Entscheidende Fragen bleiben trotz der neuen Maßnahmen weiterhin offen: So zielt das vorgeschlagene Maßnahmenpaket darauf ab, dass bis 2030 alle Autos elektrisch betrieben werden, aber beantwortet nicht die Frage: Wie kann die EU-Politik Carsharing und autofreies Fahren besser unterstützen[12]? Ziele von Renovierungen im Gebäudesektor wurden erneut angehoben, aber: Wie kann EU-Politik sicherstellen, dass Energieeffizienz-Verbesserungen trotz steigender Flächennachfrage (und damit steigender Energienachfrage) effektiv wirken[13]? Und, besonders wichtig, wie können Gerechtigkeit und subjektives Wohlbefinden besser in den Mittelpunkt der Politik zur Emissionsreduzierung gerückt werden?
Diese und weitere Fragen sind herausfordernd, aber bieten auch die Chance, unsere Lebensstile grundlegend neu zu denken und positiver sowie gerechter zu gestalten. Im Rahmen des Projekts „Politikpfade zu 1.5-Grad-Lebensstilen“ bewertet das ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien momentan Politikmaßnahmen gemäß ihrer Wirkung auf soziale Gerechtigkeit sowie auf ihre Verträglichkeit mit dem 1,5-Grad-Ziel. Im Vordergrund stehen dabei die drei Bereiche Mobilität, Ernährung und Wohnen, da diese nahezu achtzig Prozent der mit dem Lebensstil zusammenhängenden Treibhausgasemissionen ausmachen[14]. Einige Politiken bergen dabei ein besonders hohes Potential, klimagerechte Lebensstile in einer sozialverträglichen Form zu fördern: So kann z.B. eine progressiv gestaltete Grundsteuer dazu führen, dass insbesondere vermögendere gesellschaftliche Gruppen weniger platzintensiv – und damit weniger energieintensiv – bauen und wohnen[15]. Im Ernährungsbereich können z.B. Restriktionen bei der Werbung für Kohlenstoff-intensive Lebensmittel positive Effekte erzielen, da die Nachfrage für umwelt- und klimaschädliche Lebensmittel dadurch höchstwahrscheinlich sinken würde[16]. Im Mobilitätssektor würde der Ausbau von Fahrrad- und Fußwegen nicht nur einen erheblichen Beitrag zu sichererer, gesünderer sowie insgesamt klima- und umweltfreundlicherer Mobilitätsinfrastruktur für alle leisten[17] – eine solche Maßnahme hätte auch eine deutliche soziale Komponente, da diese Art von Infrastruktur (noch) überproportional von gesellschaftlichen Gruppen genutzt werden, auf denen bislang wenig Augenmerk liegt, wie Kindern, älteren Menschen oder Menschen mit Behinderung.
Die Autor:innen des Beitrags sind Dr. Christoph Gran, Nora Kögel, Coline Lavorel, Dr. Sylvia Lorek und Sophia Tomany vom ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien. Das ZOE ist ein gemeinnütziger Think & Do Tank, der gemeinsam mit Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft richtungsweisende Impulse für die fundamentalen Fragen einer zukunftsfähigen Ökonomie entwickelt.
Tagung:
Die Tagung „1,5-Grad-Ziel – Welche Hebel wirken schnell und effektiv?“ findet vom 1. bis 3. Oktober 2021 an der Evangelischen Akademie Tutzing statt, in Kooperation mit dem ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Programm und Anmeldemodalitäten finden Sie unter diesem Link.
Der Beitrag ist zugleich die Gastkolumne im September-Newsletter der Evangelischen Akademie Tutzing. Mehr dazu hier.
Weitere Informationen zu ZOE:
Um mehr über das ZOE Institut und das Projekt „Politikpfade zu 1.5-Grad-Lebensstilen“ zu erfahren, besuchen Sie die Webseite https://zoe-institut.de/project/politikpfade-zu-1-5-grad-lebensstilen/. Dort finden Sie auch das Strategiepapier „1.5 Degree Policy Mix“ und eine Präsentation von Dr. Hans Bruyninckx, dem Exekutivdirektor der EUA, aus unserem Kick-off Workshop.
[1] Climate change: IPCC report is ‘code red for humanity’. BBC News (2021).
[2] Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. (Cambridge University Press, 2021).
[3] Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. (Cambridge University Press, 2021).
[4] European Council. Fit for 55. https://www.consilium.europa.eu/en/policies/fit-for-55/ (2021).
[5] UNEP. Emissions Gap Report 2020. UNEP – UN Environment Programme http://www.unep.org/emissions-gap-report-2020 (2020).
[6] Akenji, L., Lettenmeier, M., Koide, R., Toivio, V. & Amellina, A. 1.5-Degree Lifestyles: Targets and options for reducing lifestyle carbon footprints. (Institute for Global Environmental Strategies, Aalto University, and D-mat ltd., 2019).
[7] Bohnenberger, K. Freiheit zum Weniger – wie EU-Politik nachhaltiges Leben und Wirtschaften ermöglichen kann. 21.
[8] Akenji, L., Lettenmeier, M., Koide, R., Toivio, V. & Amellina, A. 1.5-Degree Lifestyles: Targets and options for reducing lifestyle carbon footprints. (Institute for Global Environmental Strategies, Aalto University, and D-mat ltd., 2019).
[9] Wang, S. & Khosla, R. Achieving Low-Carbon and Equitable Lifestyle Change. https://cast.ac.uk/wp-content/uploads/2021/01/CAST-Briefing06.pdf (2021).
[10] Oxfam. Confronting Carbon Inequality in the European Union. https://oi-files-d8-prod.s3.eu-west-2.amazonaws.com/s3fs-public/2020-12/Confronting%20Carbon%20Inequality%20in%20the%20EU_0.pdf (2020).
[11] Wang, S. & Khosla, R. Achieving Low-Carbon and Equitable Lifestyle Change. https://cast.ac.uk/wp-content/uploads/2021/01/CAST-Briefing06.pdf (2021).
[12] Brand, C. et al. The climate change mitigation effects of daily active travel in cities. Transp. Res. Part Transp. Environ. 93, 102764 (2021).
[13] Bierwirth, A. & Thomas, S. Estimating the sufficiency potential in buildings: the space between under-dimensioned and oversized. in (European Council for an Energy-Efficient Economy., 2019).
[14] Akenji, L., Lettenmeier, M., Koide, R., Toivio, V. & Amellina, A. 1.5-Degree Lifestyles: Targets and options for reducing lifestyle carbon footprints. (Institute for Global Environmental Strategies, Aalto University, and D-mat ltd., 2019).
[15] Cohen, M. J. (2020). New conceptions of sufficient home size in high-income countries: Are we approaching a sustainable consumption transition? Housing, Theory and Society, 1-31.
[16] United Nations Environment Programme. (2020). The emissions gap report 2020.
[17] Walker, R. (2020). Decarbonisation transport: The role of buses’, Local Government Association: London. Local Government Association, London.
Bild: Dr. Christoph Gran, Coline Lavorel, Dr. Sylvia Lorek und Sophia Tomany vom ZOE Institut (Quelle: