Nach Corona? Online-Sommertagung des Politischen Clubs

Die Rolle von Politik und Wissenschaft, Kommunikation und Vertrauen, Zivilgesellschaft und Kirche, Risikoethik, Digitalisierung und Prävention waren nur einige der Themen, die die inhaltlich dicht gepackte Online-Sommertagung des Politischen Clubs beleuchtete. Unter der Frage “Nach Corona?” zog Leiter Wolfgang Thierse gemeinsam mit versierten Referierenden und interessierten Tagungsgästen eine Zwischenbilanz.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach beschrieben gleich zu Beginn der eintägigen Online-Veranstaltung “Nach Corona? Eine Zwischenbilanz in den Zeiten der Pandemie” die nötigen Konsequenzen aus der Krise. Der Bundestagsabgeordnete Lauterbach zeigte sich überzeugt, dass der große Schrecken in diesem Sommer enden werde und ein normales Leben wieder möglich sei.

Allerdings müssten jetzt dringend Kinder und Jugendliche geimpft werden, forderte Lauterbach. Es sei zu erwarten, dass es immerhin bei einem Prozent der infizierten Kinder zu einem schweren Krankheitsverlauf mit einer notwendigen Behandlung im Krankenhaus komme. Außerdem seien Ausbrüche der Pandemie in den Schulen zu befürchten.

Für die Schulen mahnte Gesundheitsminister Spahn weiterhin zur Vorsicht. Sie könnten für die Viren zur “Drehscheibe” in andere Haushalte werden. Auch nach den Sommerferien werde es weitere Schutzmaßnahmen an Schulen geben – er zählte dabei mehrere Möglichkeiten auf, wollte sich im Detail allerdings nicht festlegen.

Eine Konsequenz aus der Corona-Krise muss laut Spahn ein Ausbau der Digitalisierung im Gesundheitswesen und eine bessere Bevorratung mit nötigen medizinischen Hilfsmitteln sein. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen und in der Verwaltung sei vor der Pandemie auf dem Stand der 1990er Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen, immerhin seien die Faxgeräte inzwischen aus den Gesundheitsämtern verschwunden. Ein neues digitales Intensivregister ermögliche einen schnellen Überblick, wie viele Intensivbetten jeweils zur Verfügung stehen. Es fehle jedoch immer noch ein Kommunikationskanal des Bundes, mit dem alle Bürgerinnen und Bürger rasch und einfach informiert werden können. Deshalb hätten zum Beispiel Coupons für Masken verschickt werden müssen – mit einem aufgedruckten Bundesadler als Fälschungsschutz.

Nach einer Prognose von Spahn wird die Delta-Mutation die dominierende Variante des Virus. Dabei geht er davon aus, dass auch diese Mutation durch kleine Inzidenz-Werte eingedämmt werden kann. Denn bei einer geringen Größenordnung könnten die Infektionsketten durchbrochen werden.

Die Langzeitfolgen von Covid-19 können nach Einschätzung von Lauterbach gravierende Auswirkungen haben. Denn Corona könne die kleinen Zellschichten (Endothele) in den Innenwänden der Organe wie Lunge, Herz und auch dem Gehirn angreifen. Durch diese Vorschädigungen sei eine Zunahme von Herzinfarkten oder Demenz-Erkrankungen zu befürchten.

“Historisches Versagen” westlicher Länder

Während Deutschland trotz Versäumnissen und Fehlern insgesamt gut durch die Corona-Krise gekommen sei, stünden die ärmeren Länder in Afrika, Südostasien oder Lateinamerika vor einer katastrophalen Situation, sagte Lauterbach. Denn auf diese Länder, in denen es noch kaum geimpfte Menschen oder eine medizinische Intensivstruktur gebe, komme die aggressive Delta-Variante des Virus zu. Deshalb sei es ein “historisches Versagen” der westlichen Länder in Europa und den USA, in der Planung der Impfkapazitäten und Produktion nicht ausreichend für ärmere Länder mitgedacht zu haben. Dies sei eine “ökonomische und menschliche Fehlentscheidung” gewesen, die “ihresgleichen sucht”. Während der “große Schrecken” für Deutschland und weitere wohlhabende Länder in diesem Sommer enden werde, werde die Welt noch mehrere Jahre damit zu kämpfen haben.

Der Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin warnte davor, die “gewaltigen Einschnitte” in die Grundrechte durch die Maßnahmen gegen die Pandemie zu verharmlosen. Diese Einschnitte, die auch die individuelle Würde, zum Beispiel von sterbenden Menschen, verletzt hätten, müssten ein “absoluter Ausnahmefall” bleiben. Auch wenn die Entscheidungen unabdingbar gewesen seien, müsse es klare Kriterien geben, nach denen sie wieder aufgehoben werden.

Nida-Rümelin prangerte an, es habe eine “Fehlwahrnehmung des Risikos” durch Corona gegeben, durch die es zu einer “völlig inakzeptablen Verlängerung der Pandemie” gekommen sei. Er plädiert für weniger verharmlosende Botschaften und eine Containment-Strategie im Kampf gegen Pandemien, wie sie etwa von Südkorea und Taiwan erfolgreich angewandt worden sei. Jedoch meinte er: “Uns fällt es schwer, den Blick mal umzukehren und von Ländern wie Südkorea zu lernen.”

Kirche muss Plattform für friedlichen Dialog bieten

Was hat die Corona-Krise für Entwicklungen in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland mit sich gebracht? Dieser Frage gingen Wolfgang Thierse und Akademiedirektor Udo Hahn im Gespräch mit der ehemaligen thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht und dem Münchner Regionalbischof Christian Kopp nach. Nach übereinstimmender Ansicht beider müsse die Kirche eine Plattform für Austausch und friedlichen Dialog bieten. Denn während der Pandemie hätten sich die Debatten und die Unterschiede verschärft, sagte Lieberknecht. Zu den gesellschaftlichen Verwerfungen gehöre beispielsweise, dass lokale Familienbetriebe in ihrer Existenz gefährdet seien, dafür anonyme Großkonzerne an Bedeutung gewonnen hätten.

Wie Regionalbischof Kopp sagte, müsse die Kirche das Gespräch mit unterschiedlichsten Gruppen suchen und dadurch zu einem Ausgleich und einem “gemeinsamen friedlichen Leben” beitragen. Allerdings sei dabei auch eine klare Kante gegen Rechtsextremismus und antisemitische Tendenzen nötig.

Die Corona-Krise hat nach übereinstimmender Einschätzung von Lieberknecht und Kopp für die Kirche einen Kreativitätsschub gebracht. Die Digitalisierung sei vorangekommen, es seien um die Kirchen “sozialräumliche Netzwerke” entstanden und das Angebot der offenen Kirchen sei von vielen Menschen wahrgenommen worden, sagte der Regionalbischof von München und Oberbayern.

Allerdings werde der Gottesdienst in Präsenz auch nach der Pandemie und trotz neuer digitaler Angebote nach Einschätzung von Lieberknecht und Kopp seine zentrale Bedeutung behalten. Der Gottesdienst bleibe auch unabhängig von den Teilnehmerzahlen “ganz elementar”, sagte Lieberknecht aus ihrer Berufserfahrung als evangelische Pfarrerin. Wie Regionalbischof Kopp ergänzte, könnten für die Kirche digitale Formen nur eine notwendige Ergänzung sein. Das Evangelium brauche “personalen Kontakt”.

“Die Zivilgesellschaft in der Pandemie zwischen Solidarität und Egoismus, Disziplin und Entnervung” beleuchteten der Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin, Edgar Grande und Thomas Röbke, Geschäftsführender Vorstand des Landesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement Bayern e.V. sowie Vorsitzender des Sprecher:innenrates das Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement.

“Neue Form der Widerständigkeit”

Als “richtungsweisend für das Verhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft” bezeichnete Edgar Grande die Entwicklungen in Zeiten der Pandemie. Er erläuterte die Ursachen und Folgen der drei Gesichter, die die Zivilgesellschaft während der Krise gezeigt habe: das solidarische, das frustrierte und das empörte Gesicht.

Prägend für die Erfahrungen der Menschen sei das “Klärungsvakuum”, das Corona habe entstehen lassen: Viele Teile der Gesellschaft seien verunsichert darüber, dass es zu wenig Wissen über Ursachen, Qualität und Folgen der Pandemie gebe. Das Misstrauen gegenüber Staat und Regierung sei gewachsen, auch weil die bürgerlichen Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Dadurch sei eine “neue Form der Widerständigkeit” entstanden, die man keinesfalls an den politischen Rand drängen sollte. Wichtig sei nun, Formen und Foren zu finden, in denen Begegnungen wieder möglich sind. Schließlich habe Zivilgesellschaft auch eine starke integrative Funktion.

Thomas Röbke forderte vom Staat die Rahmenbedingungen für mehr Wertschätzung und Förderung vor Ort. Aus Erhebungen wie etwa dem aktuellen “Freiwilligen-Survey” wisse man: Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, vertrauen auch mehr auf den Staat. Als “Skandal” bezeichnete es Wolfgang Thierse in diesem Zusammenhang, dass das Demokratie-Förderungsgesetz nicht durchgegangen ist.

Was ist aus politischer Sicht gut gelaufen während der Pandemie, was nicht? In der Schlussrunde mit den Bundestagsabgeordneten Hilde Mattheis, Erwin Rüddel und Janosch Dahmen ging es um Herausforderungen der Kommunikation, verantwortliches Handeln versus Profilierung und zukünftige Krisenprävention.

Unter Verwendung von Material des Evangelischen Pressediensts (EPD, Achim Schmid)

Hinweis:
Auf dem YouTube-Kanal der Evangelischen Akademie Tutzing (#EATutzing) können Sie alle Vorträge und die Debatten im Anschluss noch einmal ansehen:

(1/7) Einführung und Begrüßung mit Akademiedirektor Udo Hahn und Dr. h.c. Wolfgang Thierse https://youtu.be/o5DoN2cBWYU

(2/7) Prof. Dr. Karl Lauterbach MdB: „Was ist zu lernen aus dem Corona-Jahr – für den Wissenschaftler, den Gesundheitspolitiker, den Abgeordneten?” https://youtu.be/wuDJfPxJIxk

(3/7) Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (MdB): “Corona als Bewährungsprobe für Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik – Was ist gelungen, was nicht, was sollten wir ändern” https://youtu.be/ZkiIpfqEpiM

(4/7) Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: “Die Corona-Pandemie als politische und kulturelle Risikoerfahrung” https://youtu.be/qDwefzWiY54

(5/7) Ministerpräsidentin a.D. Christine Lieberknecht und Regionalbischof Christian Kopp: “Coronakrise gleich Kirchenkrise? Die Pandemie als Bewährungsprobe für die Kirchen” https://youtu.be/h7_XSJC2PoU

(6/7) Prof. Dr. Edgar Grande und Dr. Thomas Röbke: “Die Zivilgesellschaft in der Pandemie zwischen Solidarität und Egoismus, Disziplin und Entnervung” https://youtu.be/86RUeqSUC6k

(7/7) Podiumsgespräch mit Dr. Janosch Dahmen MdB, Hilde Mattheis MdB und Erwin Rüddel MdB: “Nach Corona? Eine Zwischenbilanz in den Zeiten der Pandemie” https://youtu.be/f3Y4huBSQtk

Bild: Karl Lauterbach im Gespräch Wolfgang Thierse und Udo Hahn in der Online-Sommertagung im Politischen Club (Foto: Screenshot / eat archiv)

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