Jahresempfang 2021: Zentralratspräsident Schuster setzt auf Begegnung mit dem jüdischen Glauben
“Bedroht, beschützt, beheimatet: Jüdisches Leben in Deutschland”, so lautete der Titel der Festrede von Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Darin widmete er sich dem gerade begonnenen Festjahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland”, das für ihn “kein Jubeljahr” sei.
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Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Maßnahmen. In Zeiten der Corona-Pandemie bedeutete das für die Evangelische Akademie Tutzing, dass der traditionelle Jahresempfang in seiner gewohnten Form nicht stattfinden konnte. Aus diesem Grund fand er am Abend des 25. Januar online statt, auf dem Video-Kanal der Akademie.
Im festlich geschmückten Saal ohne Zuschauer sprach Pfarrer Udo Hahn seine Begrüßungsworte, Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm die Grußworte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und es spielte das Trio des Jewish Chamber Orchestra Munich Werke von Gideon Klein und Leo Weiner.
Das Grußwort der Bayerischen Staatsregierung hielt Ministerpräsident Dr. Markus Söder per Videobotschaft – und auch die Festrede von Dr. Josef Schuster war vorab im Jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrum “Shalom Europa” in Würzburg aufgezeichnet worden.
Josef Schuster bedankte sich, als Festredner das soeben begonnene Gedenkjahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” in den Fokus rücken zu dürfen. Für Schuster ist das Festjahr “kein Jubeljahr”, denn die Geschichte der Juden in Deutschland sei “von Höhen und Tiefen geprägt, nicht nur von Tiefen – von tiefsten Abgründen”. Dennoch halte er es für notwendig. Zu gering sei das Wissen in der Bevölkerung über das Judentum, zu oft werde damit einzig das Thema Holocaust verbunden.
Der Bayerische Ministerpräsident Söder bezeichnete die Evangelische Akademie Tutzing als “einen der wichtigsten Orte des Denkens und Nachdenkens”. In seinem Grußwort ging er auch auf die ethischen Fragen ein, die im Zuge der Corona-Pandemie aufkommen. Vor dem Hintergrund der getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sagte er: “Wir haben den Auftrag, Leben zu schützen – und zwar das Leben aller.” Neben dem gesundheitlichen Aspekt gebe es in dieser Debatte auch eine gesellschaftlich-demokratische Dimension.
In diesem thematischen Spannungsfeld bewegte sich der Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing, dessen Kern die Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und das Anliegen des jüdischen Gedenkjahres waren. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sagte, es gehe dabei darum, “in Deutschland ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie lange bereits Juden in deutschen Landen leben, wie sehr sie die Kultur unseres Landes geprägt haben und wie sich das jüdische Leben heute gestaltet”.
Die Frage nach dem Zusammenleben
Neben dem Wissen über das Judentum sei ein wichtiger Baustein die Aufklärung über Antisemitismus – wie er sich etwa in den sozialen Netzwerken stark ausbreitet. Lehrerinnen und Lehrer müssten auch hier gezielt fortgebildet werden, forderte Schuster.
Landesbischof Bedford-Strohm ging in seinem Grußwort unter anderem auf die antisemitischen Angriffe in Deutschland im Jahr zuvor ein. “Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland Ziel von Hass und Gewalt werden, wenn Rabbiner auf der Straße verbal und physisch angegriffen werden oder wenn sogar Synagogen Ziel brutaler Terrorangriffe werden, dann mischen sich bei mir Gefühle von Ohnmacht, und großer Trauer mit Abscheu und Zorn, aber auch mit der festen Entschlossenheit, nie wieder zuzulassen, dass die dahinterstehenden menschenverachtenden antisemitischen Ideologien wieder salonfähig werden. Nirgendwo auf der Welt und ganz bestimmt nicht in diesem Land!”, so Bedford-Strohm.
Akademiedirektor Udo Hahn brachte in seiner Begrüßungsrede eine zentrale Frage auf den Punkt: “Wie wollen wir zusammenleben?” Diese Frage stelle sich durch die Corona-Pandemie mit steigender Dringlichkeit. Der Kampf gegen die Pandemie bringe das Krisenmanagement an seine Grenzen. Zum einen gehe es darum, “das Zusammenleben zwischen den Geschlechtern und Generationen gemeinschaftsverträglich und gerecht zu entwickeln”, zum anderen sei durch die Frage nach dem Wir ein “brandgefährlicher Debattenstrang entstanden, durch den Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus ganz ungeniert Einzug in die Mitte der Gesellschaft” hielten.
Menschen, die lange genug in einer Welt von Fake News lebten, seien für Argumente nicht mehr empfänglich, sagte Ministerpräsident Söder. Am Ende entstehe bei ihnen eine Distanz, die zu moralischem Widerstand gegen Staat und Gesellschaft führe. Der Anfang zeige sich hier in der Sprache. “Dieser Widerstand beginnt sprachlich, gedanklich – er kann aber auch in Taten enden”, so Söder. Die Herausforderung sei hier, trotz allem weiter zu argumentieren, aber auch die Grenzen klarzumachen und zu zeigen, dass “unsere Demokratie wehrhaft ist”.
Mit deutlichen Worten ging auch Josef Schuster auf antisemitische Verschwörungsmythen ein, die sich im Zuge der Corona-Pandemie auf Querdenker-Demonstrationen in Form von gelben Sternen mit einer “Ungeimpft”-Aufschrift oder Anne Frank-Vergleichen niederschlugen. “Diese billige Instrumentalisierung der Opfer der Shoa widert mich an!”, sagte der Zentralratspräsident. Der Mechanismus sei hier der Gleiche wie im Mittelalter: Auf der Suche nach einem Sündenbock, müsse eine Minderheit herhalten. Mit großer Sorge betrachtet er die Breite der Bewegung, die im letzten Jahr entstanden sei: von Rechtsradikalen bis hin zur Öko-Bewegung. Mit Blick auf mögliche Insolvenzen und steigende Arbeitslosenzahlen durch die Pandemie warnte Schuster vor einem zunehmenden Nährboden für Radikalisierungen.
Er betonte aus diesem Grund den Wert der Begegnungen. “Wir brauchen das, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken, um den antidemokratischen Fliehkräften wirksam etwas entgegenzusetzen”, so Josef Schuster.
Handreichung über “tiefste menschliche Abgründe”
In seiner Rede gab Schuster auch einen kleinen Überblick, wie und wo jüdisches Leben heute in Deutschland stattfindet und an welchen Orten man auch in Bayern aktuellen und historischen Beispielen begegnen kann.
Die deutsch-jüdische Geschichte sei auch eine christlich-jüdische Geschichte, in der “über Jahrhunderte Juden von der Gunst christlicher Herrscher abhängig waren”. Schuster erinnerte an die “Judenschriften” Martin Luthers und weitere Zeugnisse der Judenfeindlichkeit im Christentum – wie etwa die Figuren der “Ecclesia” und der “Synagoga”. Auf dem Nährboden des religiösen Antijudaismus sei im 19. Jahrhundert schließlich der rassistische Antisemitismus entstanden.
Wichtig war es Josef Schuster, auf die Aufarbeitung beider christlicher Kirchen in Deutschland mit diesen dunklen Kapiteln und ihrer “selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus” hinzuweisen. Diese Haltung habe dazu beigetragen, dass das christlich-jüdische Verhältnis so gut sei, “wie es wohl noch nie in der Geschichte” der Fall gewesen war. Mutige Frauen und Männer hätten sich hier “über den tiefsten menschlichen Abgrund die Hände gereicht”.
Forderung nach verpflichtenden KZ-Gedenkstättenbesuchen
Es sei diese historische Aufarbeitung, die er in der Breite der Gesellschaft vermisse, so Schuster. Es gebe immer weniger Zeitzeugen, die aus ihrem Leben erzählten. Und immer mehr Kinder und Jugendliche zeigten große Wissenslücken in Kenntnissen über die Shoa. Die Rolle der Gedenkstätten sei aus diesem Grund essentiell. Schuster wiederholte seine Forderung, KZ-Gedenkstättenbesuche sowohl für Schülerinnen und Schüler weiterführender Schulen als auch für Auszubildende der Polizei und Justiz verpflichtend zu machen. Mangelndes Wissen sei einer der Gründe, die zu antisemitischen Haltungen führte – die Tradierung einer nationalen und familiären Erinnerungsverweigerung eine weitere.
“Wir stehen heute vor der Aufgabe, eine Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen zu entwickeln.” Diese Erinnerungskultur habe die Aufgabe, neue Formen zu finden, um auch die jüngere Generation mitzunehmen – sowie, eine Gedenkkultur für unsere Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln.
Dorothea Grass
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– Den Festvortrag “Bedroht, beschützt, beheimatet: Jüdisches Leben heute” – von Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, können Sie hier vollständig abrufen.
– Das Grußwort des Landesbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, finden Sie hier.
– Die Begrüßungsrede von Akademiedirektor Udo Hahn können Sie hier nachlesen.
Auf dem YouTube-Kanal der Akademie können Sie den kompletten Jahresempfang noch einmal ansehen.
Bild: Blumenschmuck am Rednerpult während des Online-Jahresempfangs der Evangelischen Akademie Tutzing 2021 (eat archiv)