Our Future Is Now! Kunst und Mentoring als Push für Partizipation

Ist Jugend-Partizipation in Bildungsprozessen eine der Voraussetzungen für Partizipation in der Gesellschaft? Davon bin ich überzeugt. Wie politische Bildungsarbeit an der gesellschaftlichen Nachwuchs-Basis aussehen kann, sollen zwei Beispiele aus dem Wirkkreis des Jungen Forums der Evangelischen Akademie Tutzing zeigen: ein Peer-to-Peer-Mentoringprogramm und ein künstlerisches Jugendpolitik-Projekt. Spoiler: In diesen Formaten wurden heiße Eisen angepackt: Digitale Bildungsgerechtigkeit, Diversität, Umweltpolitik & gemeinwohlorientierte Digitalität.

Die Corona-Pandemie hatte im Frühjahr 2020 auch die Tagungsarbeit in Tutzing erst einmal auf den Kopf gestellt – und schließlich auf die Digital-Probe. “Meet & be creative – für ein neues Wir” war der Titel der Tagung, zu der das Junge Forum ursprünglich für Ende März eingeladen hatte. Mit dem Lockdown musste die Tagung abgesagt werden – zumindest in ihrer analogen Form. Damit sie dennoch als Online-Tagung stattfinden konnte, musste umdisponiert werden. Es funktionierte: 45 Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren nahmen am Online-Format “Meet online & be creative! Für ein neues digitales Wir” am 5. April 2020 teil. Inmitten der Homeschooling-Zeit, in der den Jugendlichen auch die Treffen innerhalb ihrer Peer-Group fehlten, schaffte es die erste Online-Tagung in der Geschichte der Evangelischen Akademie Tutzing, in den Workshops Gemeinschaft erlebbar zu machen und politische Themen zu diskutieren. Mehr noch: Die Jugendlichen wurden animiert, künstlerisch ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Drei Stunden lang coachten vier Kunstschaffende die Jugendlichen im Comiczeichnen, Poetry Slammen und Improtheaterspielen. So entstanden per Videokonferenz Gemeinschaftskunstprojekte, virtuelle Diskursorte und ein Ort des Zusammenhalts. Die Diskussionen kreisten um politische Themen wie den Klimawandel, Fragen der Migrationsgesellschaft oder auch die jugendlichen Erfahrungen in der Pandemie.

Das Kooperationsteam um das Jugendteam der Islamischen Gemeinde Penzberg und der Evangelischen Gemeinde Tutzing gab dem Wert des künstlerischen Diskurses für ein plurales Wir noch einmal ein eigenes Gewicht. Die Tagung fand im Rahmen des Projekts “Alles Glaubenssache?” der et statt und wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.

Mit Kunst politisch laut werden

Die Idee der Tagung lautete: Nur wenn Jugendliche eigene Haltungen entwickeln und äußern, können mündige Bürger*innen aus ihnen werden, die mitreden wollen, plurale Meinungen vertreten und die Demokratie stärken. Der Deutsche Bundesjugendring machte im Positionspapier “Jugendpolitik im Ausnahmezustand” deutlich, dass die sinnvollen und notwendigen Maßnahmen in der Pandemie auch die Freiräume junger Menschen für gemeinsames Lernen beschränken. Viele Räume für Austausch und gemeinsame Erlebnisse im sozialen Netzwerk mit Peers fielen im Lockdown weg. Digitale Vernetzung kann dies nur zu einem Teil kompensieren. “Politik und Gesellschaft müssen junge Menschen gerade jetzt unterstützen, neue digitale Freiräume zu entwickeln”, forderte der Jugendring.

Algorithmen im Netz lassen User*innen passiv werden: Ihnen werden Videos und Links vorgeschlagen, sie streamen und konsumieren. Aber im Online-Workshop wurden die Jugendlichen selbst Co-Produzent*innen der Tagung. Es bestätigte sich, dass Jugendliche in der digitalen Zivilgesellschaft und im Gesellschaftsdiskurs ernstzunehmende Player sind. Kunst kann als Verstärker für die Stimmen der Jugend funktionieren und ihren Wert für die Zukunftsgestaltung sichtbar machen. Mit vier Kunstschaffenden konnten die Tagungsgäste spielerisch und kreativ das zum Ausdruck bringen, was sie aktuell bewegt und mit anderen darüber ins Gespräch kommen. Das gelang auch im virtuellen Setting. Dabei ist ein Schlüssel, auch in diesem digitalen Raum in eine persönliche Beziehung zu kommen und Vertrauen wachsen zu lassen. Konkret liefen die Workshops so ab:

Comic DIY: In zehn Minuten zeichneten die jungen Künstler*innen im Online-Workshop ihre eigenen Comic-Strips. Das Thema gab die Aktualität her: “Quarantäne Life, #StayAtHome und Co.”, der individuelle künstlerische Ausdruck war das Wichtigste mit Illustratorin und Graphic Recorderin Kathrin Rödl.

Eigene Worte finden mit Poetry-Slam-Texten: Wie muss ein Slamtext aufgebaut sein? Was macht starke Slogans aus? Und was ist meine politische Botschaft? Im Work-shop mit dem Slammer Philipp Potthast (Gewinner der bayerischen Poetry-Slam-Landesmeisterschaft) erlernten die jungen Tagungsgäste Grundtechniken, um Slam-texte zu schreiben. Jugendliche mit unterschiedlichen Backgrounds feilten dann im Workshop an eigenen Texten – und schufen Gemeinschaftswerke. Der Slamtext “Zukunft heißt Zusammenhalt” hat elf Autor*innen und manifestierte ein Wir-Gefühl im gemeinsamen Schaffen von Kunst. Meinungen und Denkansätze in die Kunstform des Poetry Slams zu bringen und gleichzeitig zu diskutieren, ob und wie diese Haltungen in einen gemeinsamen Text passen, war eines der prägendsten Erlebnisse im Workshop.

Mut beweisen und Perspektivenwechsel im Improtheater: Freude am Spiel stand für alle Jugendlichen im Improtheater-Workshop mit den Schauspielern Adrian Klein und Tobias Zettelmeier des Theaterkollektivs “Bühnenpolka” ganz weit oben. Auch die Auseinander-setzung mit anderen Standpunkten regte im Perspektivwechsel bei gesellschaftlichen Themen zum Verstehen-Wollen des Gegenübers an – und um auch einmal aus der Rolle der Schüler*innen schlüpfen zu können. Netzkultur.

Von TikTok, Online-Lesungen und Politisch-Sein

Für das Kunsterleben und Politisch-Sein wurden in der Pandemie neue Formate geschaffen, das zeigt die große Kraft der Internet-Community in Livestream-Wohnzim-merkonzerten, digitalem Protest und Online-Demos. Das Internet ist zur Vernetzung von Menschen erfunden worden und synergetisch mit der analogen Welt. Technologie soll hier dem Gemeinwohl dienen und die digitale Zivilgesellschaft stärken. Das Netz, das in Zeiten von Quarantäne und Kontaktverbot nicht nur Ablenkung und Freude bietet, kann so auch Resilienz stärken. Für das erste Online-Tagungsformat der Evangelischen Akademie Tutzing könnte das ein Effekt gewesen sein. Es braucht die Kunst, mit Unbekanntem umzugehen; alleine zuhause, online im Wir. Ein neues Wir-Gefühl. Klar ist: Der digitale Kunstgenuss ist kein Ersatz für das Live-Erlebnis. Aber digitale Kunst war ein Appetizer der Vorfreude auf die Zeit nach der Pandemie, eine Überbrückung und vor allem das Erleben einer virtuellen Kunstgemeinschaft. Zukunft braucht junge politische Kunst. Virtuelle Kunst ist für junge Menschen mit Tiktok und Youtube alltäglich und mit eigenen Channels Ausdruck ihrer Meinungsäußerung. Vielleicht werden in den Kunsträumen, die momentan virtuell entstehen, junge Kunstschaffende entdeckt oder begeistert.

Über Diversität, Exklusion und Digital Literacy

Die Tagung hatte unter anderem das Ziel, ein digitales Wir-Gefühl zu erleben. Für analoge wie virtuelle Tagungssettings lohnt es sich, das “Wir” zu reflektieren. Wer nimmt teil? Wer nicht? Und warum? Das Netz und die künstlerische Freiheit sind prinzipiell für alle Menschen da. Online-Formate ermöglichen Tagungsteilnahmen über räumliche Distanzen hinweg, Anreisen und Fahrtkosten erübrigen sich. Gleichzeitig setzt eine virtuelle Tagung eine technische Ausstattung voraus – ein Grund, der für manche Jugendliche zum Ausschlusskriterium werden kann. Dass Jugendliche mit verschiedenen Bildungsgeschichten und sprachlichen Backgrounds miteinander in einen Austausch kommen, unterschiedliche Meinungen hören, sich zuhören und voneinander lernen, bleibt auch für virtuelle Foren in der Jugendbildung wichtig. Auch gesamtgesellschaftlich ist laut den Gründerinnen und Tech-Forscherinnen Julia Kloiber und Elisa Lindinger (Superrr Lab & Digitale Zivilgesellschaft e.V.) “eine unabhängige und zuverlässige digitale Infrastruktur nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Souveränität, sondern auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Denn der Zugang zu Wissen und sicheren, widerstandsfähigen digitalen Werkzeugen entscheidet, wer in Zukunft mitgestalten kann und wer abgehängt wird.” Und so fordern sie, dass ein gemeinwohlorientiertes digitales Ökosystem politische Priorität haben soll. Junge Menschen sind im Digitalisierungs-Boom mit ihrer Medienkompetenz mehr als bereichernd für den Diskurs. Digital Literacy, also die Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Medien, bleibt auch für den intergenerationalen Austausch und darin liegende gegenseitige Kompetenztransfers grundlegend.

Diesen Ansatz verfolgte das Team im Mentoringprogramm “Zukunfts-Lab: Digitalität, Ethik, Greentech & Umweltpolitik” im Jahrgang 2019/2020. Das Programm lässt sich auf das Konzept des “Selbstmachens” im Peer-to-Peer-Rahmen herunterbrechen. Ein Jahr lang haben die jugendlichen Mentees die Möglichkeit, an der Evangelischen Akademie Tutzing ihre eigene Tagung nach ihren eigenen Ideen auf die Beine zu stellen und von Anfang bis Ende für junge Tagungsgäste umzusetzen. Statt eines Präsenzformats fand das Zukunfts-Lab im Juli 2020 als fünfstündige interaktive Online-Tagung mit 35 Jugendlichen und dem Jugendteam statt.

Das Zukunft-Lab 2019/2020 stellte die Frage: Kann Digitalität dem Gemeinwohl dienen? Bereits seit Oktober 2019 planten die 13 Jugendlichen des Zukunft-Labs mit Unterstützung von vier Fach-Coaches ihr Tagungs-vorhaben. Was wünschen sich junge Menschen für die Zukunft? Was beeindruckt sie im Themenfeld der Greentech aktuell? Wie sind Fragen um Umweltpolitik ethisch zu reflektieren?

Diese Tagung fand in Kooperation mit der Technischen Universität München, der Fraunhofer-Gesellschaft und dem Ministerialbeauftragten in Oberbayern-Ost statt. Die jugendlichen Mentees und Tagungsgäste setzten sich in dieser mit vier Aspekten auseinander:

Digitalität ist nie neutral: Die Digitalität ist von Menschen gemacht und hat auf Menschen Auswirkungen. Julian Lamers, Politikwissenschaftler an der Hochschule für Philosophie München, betonte in seinem Workshop “Nachhaltige Digitalisierung im Demokratie-Kontext”, dass Digitalität an sich zunächst ein technischer Prozess und somit nicht per se politisch sei. Jedoch, so sagt er, würde jede neue Technologie auch neue individuelle und institutionelle Handlungsmöglichkeiten schaffen. In diesem Zusammenhang erläuterte er den Begriff der normativen Unsicherheit: Durch neue Handlungsmöglichkeiten treten auch immer neue ethische Fragen auf, die zu Unsicherheit in der Gesellschaft führen können. Darf ein Algorithmus über die berufliche Zukunft eines Menschen entscheiden? Wie viel Transparenz zum Wohle einer Gesellschaft ist einem Individuum zuzumuten? All diese Fragen sind Anzeichen für normative Unsicherheiten – und damit auch politisch.

Innovationen in der digitalen Energiewende: Wie kann eine digitale Energiewende aussehen und welche Rolle spielen hier die Verbraucher*innen? In einem Online-Planspiel diskutierten die Tagungsgäste in ihren jeweiligen Rollen die Vor- und Nachteile von Smart Homes. Hendrik Zimmermann, Koordinator des Themenbereichs “Zukunftsfähige Digitalisierung” bei Germanwatch e.V., hatte dieses Planspiel extra für das Zukunfts-Lab konzipiert. Die Teilnehmenden befassten sich mit unterschiedlichen Szenarien: Wie viel Privatsphäre kann für effektiven Klimaschutz auf-gegeben werden? Müssen für mehr Innovation alte Vorstellungen und Richtlinien überdacht werden? Kann ich als einzelne Nutzerin eines Smart Homes überhaupt etwas verändern?

Welche Ressourcen benötigen wir wirklich? Ressourcen für technische Entwicklungen werden zumeist unter sehr schlechten Bedingungen abgebaut. Fragen der Ressourcengerechtigkeit und daraus entstehender globaler Konflikte behandelten die Referentinnen Carolin Klein und Lara Nonhoff (beide Peer-to-Peer-Trainerinnen bei teamGLOBAL). Water- und Landgrabbing, also das Abgraben von Wasser oder das Aufkaufen von Land durch Konzerne oder Staaten, können Auslöser für solche Konflikte sein. Einen besonderen Aspekt stellt der sogenannte Ressourcenfluch dar. Dieser beschreibt die Situation in ressourcen-reichen Ländern, in denen sich dieser Reichtum negativ auf die Entwicklung des Landes auswirkt.

Digitalität als demokratisches Projekt: Nathalie Mysliwczyk, Mentee im Zukunfts-Lab-Team, und Joshua Steib, Jugendbotschafter der Evangelischen Akademie Tutzing, moderierten die abschließende offene Diskussionsrunde im virtuellen Plenum: Können Demokratien mit der schnellen Entwicklung im Bereich der Digitalität mithalten? Im Gespräch um die europäische Identität im Zusammenhang mit Digitalisierung wurde deutlich, dass sich die EU mit der Datenschutzverordnung als Vorreiter auf diesem Gebiet etabliert hat.

Ein Fazit des Mentoringprogramms zum Zukunft-Lab ist: Peer-to-Peer-Formate wie das Zukunfts-Lab schaffen eine sehr hohe Identifikation der Mentees als junge Tagungsleitungen mit ihrem Projekt und machen die Tagungsdurchführung authentisch. Gesellschaftspolitische Jugendbildung kann mit diesem Peer-to-Peer-Ansatz tiefer und nachhaltiger wirken.

Jugendliche sind in diesem Format sehr autark, werden dadurch empowered und vernetzen sich stärker untereinander. Jugendliche werden in ihrer Tagungsgestaltung ernst genommen – und diese Haltung gilt es auf die Gesamtgesellschaft zu übertragen. Denn das Zukunfts-Lab zeigt, wie hoch die Kompetenzen der Jugend hinsichtlich der Tagungs-thematik um Digitalität, Ethik und Umweltpolitik sind und wie stark ihre jugendpolitischen Forderungen und Ideen sind. Gesellschaftlich bekommt die junge Generation nach wie vor zu wenig Beachtung und ist doch für unsere Zukunft so entscheidend. Dass junge Menschen ernstzunehmende Player im Fach-diskurs und in der Politik sind, das machte das Zukunfts-Lab einmal mehr deutlich. Dieses Potential gilt es für die gesamte Gesellschaft zu nutzen, als Gewinn für alle. Auch, um Generationengerechtigkeit zu schaffen und in der Demokratie alle Stimmen, auch die jungen, einzubeziehen und stimmberechtigt mitwirken zu lassen. Der begleitenden Tagungsleitung in der Evangelischen Akademie Tutzing ist dieses Tagungsformat „Zukunfts-Lab“ ein Fest – und eine große Bereicherung in der Arbeit. Das Voneinander-Lernen der gesellschaftspolitischen Bildnerin und den jungen Fachpersonen, den Mentees, ist klar: eine Win-Win-Situation. Und so ist der Wunsch, dass diese real gelebte Utopie im Zukunfts-Lab, in der Jugendliche die Gestaltungsmacht haben und eine eigene Tagung organisieren, in weiteren Foren der Gesellschaft gelebt wird. Denn: OUR FUTURE IS NOW.

Autorin Julia Wunderlich ist Studienleiterin für das Junge Forum an der Evangelischen Akademie Tutzing. Weitere Informationen hier.

Link:
Ein ausführlicher Tagungsbericht zu “Meet online & be creative” mit den Comics und Poetry Slam-Texten findet sich hier.

Literatur:
Brosda, Carsten (2020): Die Kunst der Demokratie: Die Bedeutung der Kultur für eine offene Gesellschaft. Hamburg.
Kloiber, Julia; Lindinger, Elisa (2020): Digitale Zivilgesellschaft ist „systemkritisch”. Tagesspiegel vom 1.4.2020.  (Zugriff: 30.9.2020).

Dieser Artikel ist erschienen in:
Jantschek, Ole; Lorenzen, Hanna (Hrsg.): Don’t panic, act now. Beteiligung und Demokratie in der politischen Jugendbildung. Jahrbuch 2020. Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung. Berlin, S. 80–85. www.politische-jugendbildung-et.de

Bild: Julia Wunderlich, Studienleiterin Junges Forum (Foto: ma/eat archiv)