“German Angst” und Ermutigung im Jahr 2020
Es ist eine Binsenweisheit: Unser Lebensgefühl ist von Unsicherheit gekennzeichnet. Dabei gehört Angst zum Leben. Sie ist für sich genommen nützlich. Ein wichtiges Signal, das uns vor Gefahren warnt und zugleich schützt. Aber sie kann auch krank machen. Ein Beitrag von Udo Hahn
Angststörungen gehören in Deutschland zu den häufigsten psychischen Erkrankungen – noch vor den Depressionen. Angst geht auf das indoeuropäische Verb anĝh zurück – und bedeutet so viel wie einengen, zusammendrücken. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Schwindel sind die Folgen von Angst, wenn einem buchstäblich eng ums Herz wird.
Die “German Angst” ist als Begriff im englischsprachigen Raum entstanden. Sie bezeichnet das Phänomen der grundlosen Angst oder Besorgtheit – und deutet eine Haltung, die als typisch deutsch empfunden wird. Forscher sehen in ihr aber inzwischen ernst zu nehmende Gründe, etwa einen Ausdruck für die Traumatisierung durch beide Weltkriege. Sie halten es vor diesem Hintergrund sogar für möglich, dass sich traumatische Ereignisse wie Hungersnöte, Weltkriege, Verfolgung und Vertreibung im Erbgut niederschlagen und vererbt werden können. Psychologisch lässt sich die “German Angst” als natürliche Furcht vor dem Verlust von materiellen und immateriellen Gütern erklären. Das ist durchaus real.
Wie es um die Ängste der Deutschen tatsächlich bestellt ist, darüber gibt alljährlich die gleichnamige Studie eines deutschen Versicherungskonzerns Auskunft. Sie wird seit 1992 durchgeführt. Noch für 2019 lautete das durchaus überraschende Ergebnis: Die Deutschen sind so gelassen wie lange nicht. Die Daten für 2020 ergeben – wie zu erwarten war – ein anderes Bild, wenngleich nur jeder Dritte der Befragten fürchtet, sich mit dem Covid-19-Virus infizieren zu können. Die Liste wird angeführt von der Angst, dass die Welt gefährlicher wird durch die Politik des US-Präsidenten Donald Trump. Es folgen die Sorge vor steigenden Lebenshaltungskosten, den Kosten für Steuerzahler durch die EU-Schuldenkrise, eine schlechtere Wirtschaftslage sowie Naturkatastrophen. Immer mehr Menschen befürchten, dass ihre Wohnung unbezahlbar werden könnte. Ebenso groß ist die Sorge, im Alter pflegebedürftig zu werden.
Wie auch immer das individuelle Alphabet der Angst aussieht: Angst macht unsicher. Daraus wiederum folgt, dass Menschen die Zukunft pessimistisch einschätzen. Kein Wunder, dass sich angesichts der aktuellen Herausforderungen die Spirale der Angst weiterdreht.
Wie kann ich meine Ängste loswerden? Die schlechte Nachricht: Was auch immer Ratgeber empfehlen – es wird nicht funktionieren. Es ist eine irrige Vorstellung, ich selbst oder eine Regierung könnte alles Bedrohliche kontrollieren. Der Hirnforscher Gerald Hüther attestiert dem Menschen zwei Grundbedürfnisse: das nach Verbundenheit und Geborgenheit sowie nach Freiheit und Selbstbestimmung. Seine These: Träume, Sehnsüchte und Vorstellungen von einem glücklichen Leben, die diese Grundbedürfnisse aus dem Blick verlieren, sorgen dafür, dass die Angst in mir immer neue Nahrung findet.
Angst ist auch ein Thema der Bibel. “Fürchtet euch nicht!” heißt es exakt 365 Mal im Alten und im Neuen Testament. Eine Dosis Ermutigung für jeden Tag des Kalenderjahres. Wo immer in der Bibel dieser Ruf erklingt, geht es darum eine Situation zu entspannen, für Beruhigung zu sorgen. Es ist ein Ruf in die Freiheit – neutestamentlich gesprochen: “Zur Freiheit hat euch Christus befreit” (Gal 5,1). Umso irritierender, wenn ein Pfarrer jüngst öffentlich erklärte, er habe es immer kritisiert, wenn zu schnell gesagt werde, fürchtet euch nicht. Eine Haltung, die wenig seelsorgerliches Gespür offenbart. Es wirkt so, als verweigerte ein Arzt die ambulante Erstversorgung.
Menschen brauchen Ermutigung. Sie ist der Antrieb, nach Lösungen oder Teillösungen zu suchen, Brücken zu bauen – mindestens den Versuch zu unternehmen. Nicht aufzugeben. Auch dann nicht, wenn alles aussichtslos scheint. Die Kirche kann mit ihrer Verkündigung viel tun, dass Menschen innere Widerstandskraft, Selbstwertgefühl und Zuversicht entwickeln.
Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.
Hinweis:
Dieser Artikel erschien in der Wochenzeitung “Glaube + Heimat” vom 18. Oktober 2020. Mehr dazu hier