Gestärkt aus der Corona-Krise – aber wie?
Die Frage nach der „neuen Normalität“ treibt die Menschen um: Wie wird die Welt nach Corona aussehen? Wird es einen Re-Start geben, einen Neustart oder etwas ganz anderes? Udo Hahn zieht in seinem Blogbeitrag eine Zwischenbilanz.
Die Welt nach Corona – wie wird sie aussehen? Das klingt wie die Eine-Million-Euro-Frage in einem Quiz. Und eigentlich ist die Antwort nicht nur eine Million wert, sondern manch einer würde vielleicht auch eine Milliarde dafür geben. Der Zukunftsforscher Matthias Horx war Mitte März einer der ersten, der in der Krise den Versuch wagte, die Frage zu beantworten. Werden wir zur Normalität zurückkehren? „Niemals“, so Horx. „Die Welt as we know it löst sich gerade auf.“ So weit die schlechte Nachricht. Er hatte auch good news – jedenfalls kann man sie so deuten: „Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können.“
Um die Vorstellungskraft seiner Leserinnen und Leser zu motivieren, wählte er den Blick aus der Zukunft – Horx sprach vom Herbst 2020 – in die Vergangenheit, also in die Gegenwart, die wir heute erleben und mitgestalten durch unser Tun und Lassen. Seine Überlegungen, die er Mitte März formulierte, eignen sich jetzt – Ende Mai –, um eine Zwischenbilanz der Debatte seither zu ziehen.
Matthias Horx‘ eigene Sicht auf die Dinge ist ohne jeden Zweifel von Zuversicht geprägt. Dabei ist aktuell nicht entscheidend, ob im Herbst die Pandemie vorüber ist, das Schlimmste überstanden sein könnte oder womöglich erst noch bevorsteht. Der Zukunftsforscher sieht die Krise als Chance zur Korrektur von Fehlentwicklungen. Um es gleich vorweg zu sagen: Über das, was Horx anprangert, besteht wohl weithin Konsens. Viele dürften wirklich erleichtert gewesen sein, dass in den letzten Wochen „das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam“. Das gilt auch für „jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien“, die sich bei Fußballspielen stets entlud und für den Zynismus, „diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten“.
Wie aber wird die Welt nach Corona aussehen? Dafür bieten sich im Wesentlichen drei Denkmodelle an. Option 1: Re-Start. Wie beim Computer – Reset-Taste drücken, alle Systeme werden neu gestartet. Und alles ist dann wie immer. Option 2: Es geht anders weiter. Der Soziologe Heinz Bude spricht im Blick auf die Pandemie von einer „weltgeschichtlichen Zäsur“, in der ein fürsorgender Staat und ein solidarisches Miteinander die Krise bewältigen helfen, in der nicht mehr das Ich, sondern das Wir prägend wirkt. Option 3: Es geht ganz anders weiter. Das wäre der sprichwörtliche worst case, wenn die Abschottungstendenzen sich verstärken und mit ihnen nationale Egoismen, wenn internationale Solidarität aufgekündigt wird und die Schuldzuweisungen wachsen, wie es gerade etwa an Donald Trump, Jair Bolsonaro, Boris Johnson, Wladimir Putin, Viktor Orbán zu studieren ist.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Was wird denn nun kommen? „Wir werden uns wundern“, bilanziert Matthias Horx ein ums andere Mal in seinem Essay, wieviel Mitmenschlichkeit entstanden ist. Wer wie er glaubt, dass sich das Gute durchsetzt, mag zur Bestätigung etwa Friedrich Hölderlin zitieren, der wie von biblischer Hoffnung getragen, formulierte: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Oder wir halten uns an Erkenntnisse der Psychologie, die nicht nur die bleibenden posttraumatischen Störungen kennt, sondern auch das Wachsen an und nach schlimmen Erlebnissen: das adversarial growth, posttraumatic growth oder die positive adaption. Alles wird gut? Das ist immer eine realistische Möglichkeit!
Der Re-Start wäre vielen vermutlich die liebste Option, die einfach nur ihr altes Leben zurückhaben wollen. Wer mag es ihnen verdenken? Darin kennen sie sich schließlich aus – erprobt im Umgang mit den Höhen und den Tiefen. Es könnte auf eine Kombination aller Optionen hinauslaufen, wenn man nicht nur eine deutsche bzw. (west-) europäische Perspektive einnimmt, sondern auf die Entwicklung weltweit schaut.
Wenn man das Hölderlin-Zitat umdreht – frei formuliert: das Rettende wird die Gefahr bestenfalls eindämmen können –, wird deutlich, dass sich die Welt in einer Art Dauerstress befindet. Die Liste der Krisen ist so lang, dass viele gar nicht mehr im Blick sind. Manche schlummern und können jederzeit wieder ausbrechen.
Aufrichten und weitergehen
Um Krisen bestehen zu können, braucht es eine gewisse Robustheit. Die Entwicklung der zurückliegenden Jahrzehnte lässt sich sowohl in Deutschland als auch weltweit ebenfalls als Geschichte von Krisen lesen – und wie sie bei uns mehr oder weniger gut überwunden wurden. Andernorts hält sie die Negativspirale am Laufen– ohne jede Aussicht auf Besserung.
Inzwischen hat sich eingebürgert, von Resilienz zu sprechen, von einer Widerstandsfähigkeit, die nötig ist, um Bedrängnissen, Zuspitzungen und Eskalationen standzuhalten. Resilienz entsteht, wenn man aus Krisen lernt, also die Fähigkeit entwickelt, durch Störungen hindurch, nach einem Stolpern oder Sturz sich wieder aufrichten und weitergehen zu können.
Bisherige Krisen konnten – so lässt sich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deuten – stets gemeistert werden. Die Verknüpfung aller Elemente, die die Funktionsfähigkeit garantiert, klappte. Unsere Demokratie, unser Gemeinwesen – Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft – verfügt über eine entsprechende Selbststeuerfähigkeit. Und sie ist anpassungsfähig an Veränderungen. Bisher war das jedenfalls so.
Manche meinen, die weltweite Vernetzung sei die Ursache für die Probleme heute. Tatsächlich sind viele Zusammenhänge nicht einfach nachzuvollziehen und durchaus kompliziert. Komplexität, um es einmal so zu formulieren, ist jedoch nicht per se die Ursache für Probleme. Krisen entstehen immer durch Vereinfachung. Beziehungsweise dadurch, dass die Komplexität nicht verstanden oder gar geleugnet wird. Wer sich mit Systemtheorien beschäftigt, erkennt zunehmend, dass Resilienz nicht mehr zur Lösung ausreicht. Es braucht vielmehr Emergenz. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen, wörtlich übersetzt: auftauchen, emporsteigen, herauskommen. Emergente Systeme sind nicht nur zur inneren Wandlung fähig, sondern zugleich auch innovativ. Wenn man so will: die Selbstorganisation in ihrer besten Form, praktisch unzerstörbar.
Was die Sache so anstrengend macht: Wir befinden uns nicht in einem Endspiel, bei dem man nach einem Sieg des Guten zu seiner eigenen Tagesordnung zurückkehren und in Frieden leben könnte. Die Auseinandersetzung über das, was dem Gemeinwohl dient, gleicht einer TV-Serie mit täglich neuen Folgen – ohne Finale.
Wir sind der Entwicklung nicht schicksalhaft ergeben
Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: „Fake News hingehen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden“, beschrieb Horx im März seine Vision rückblickend aus dem Herbst 2020. Hätte er doch damit recht, möchte man ihm zurufen! Leider ist das Gegenteil der Fall: Fake News und Verschwörungsphantasien werden gerade als scheinbar besonders süffiges Getränk gereicht – und nachgefragt. Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Sexismus – die Giftschränke der Welt scheinen zur Selbstbedienung geöffnet.
Will man in der Corona-Pandemie auch eine Chance sehen, dann stellt sich der Paradigmenwechsel zum Guten freilich nicht von selbst ein. Er verlangt vielmehr allen nur erdenklichen Einsatz. Mut, Haltung, Zivilcourage – das ist sozusagen der tägliche Ernstfall (geworden).
Wir sind der Entwicklung nicht schicksalhaft ergeben. Zwei Erfahrungen machen Hoffnung. Die eine: Die Menschen lernen einen starken Staat zu schätzen – einen, der Freiheit und Schutz zugleich bietet. Die andere: Sie lernen die Bedeutung der Zivilgesellschaft neu schätzen. Sie ist aktuell der heimliche Stabilitätsfaktor in der Krise, obwohl sie wenig in Erscheinung tritt und dies eigentlich auch nicht kann. Sie ist durch den Lockdown fast völlig zum Erliegen gekommen. Das darf nicht mehr lange so bleiben. Die Krise dieser Pandemie kann wirksam nur überwunden und die Entwicklung der Demokratie positiv nur beeinflusst werden, wenn einem stabilen Staat auch ein stabiles Gemeinwesen – die Bürgergesellschaft – gegenübersteht. Das eine ohne das andere bietet keine Gewähr für Stabilität. Sie ist nur im Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft möglich.
Der Autor ist Pfarrer und Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing.
Bild: Udo Hahn (Foto: Haist/eat archiv)