WIE NAH, WIE FERN IST HEUTE DIE NS-VERGANGENHEIT?
85 Jahre nach der „Machtergreifung" leben fast keine Menschen mehr, die im „Dritten Reich" schon erwachsen waren; für Kriegsteilnahme wie für Täterschaft oder regimetreues Verhalten, für Verfolgung wie für Widerstand und Überleben wird es bald keine Zeugen mehr geben. Die heutigen Generationen sind in ganz unterschiedlicher Weise vom Umgang mit der NS-Zeit geprägt: Die einen haben das Schweigen der Mütter und Väter erlebt und oftmals konfliktreiches Ringen um Schuld und Verantwortung, wie es vor allem bei den „68ern" aufbrach. Die anderen sind schon groß geworden mit einem Geschichtsunterricht, der die Massen-verbrechen der Deutschen thematisierte und nach Ursachen für die „deutsche Katastrophe" fragte. Und die heute Jungen stehen vor diesem Hintergrund, ihre familiären und anderen Bezüge zur NS-Zeit sind aber durch viele weitere Entwicklungen überdeckt und verweben sich in der Migra-tionsgesellschaft mit ganz anderen Familiengeschichten.
Nach Jahren, die stark von Schweigen und Schuldabwehr bestimmt waren, wurde die NS-Zeit trotz (oder wegen) der zeitlichen Distanz seit den 1970er Jahren mehr und mehr zum Gegenstand vieler öffentlicher und auch privater Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik. In der DDR stand die offizielle Erinnerung unter dem Vorzeichen „Antifaschismus". Nach der Wiedervereinigung setzte ein Aufschwung beim Auf- und Ausbau von Gedenkstätten, Erinnerungsorten und Dokumentationszentren ein. Man denke außerdem an die vielen öffentlichen Debatten seit den 1980er Jahren: den Historikerstreit, die Wehrmachtsausstellung, die Goldhagen-Debatte. Heute ist die Erinnerung an die NS-Zeit überlagert durch 70 Jahre moralischer und politischer Diskurse, von biographischen Auseinandersetzungen, von Bildern und Geschichten der Massenmedien, die ihre eigenen Film- und Fernsehlogiken an die Vergangenheit herantragen.
Erinnerungs- und Gedenkkultur sind ein Teil der deutschen Realität. Und doch erleben wir gerade eine massive Infragestellung. Die erstarkte Neue Rechte fordert „Schluss mit dem masochistischen Schuldkult". Rechtsextremistische und neonazistische Bewegungen beleben Denk- und Erlebnisformen der NS-Bewegung wieder. Aber nicht nur am rechten Rand, auch weiter in der Mitte gibt es eine Sehnsucht nach dem Ende der Debatten, nach einer vorgeblichen „Normalität", die den nationalsozialistischen „Betriebsunfall" in den Hintergrund stellt.
In der Tagung diskutieren wir beide Seiten: verschiedene Formen und Beispiele der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, aber auch die geschichtsrevisionistischen Strömungen und ihre demokratie- und menschenfeindlichen Extreme. Erkundungen in einem vergangenheitsbezogenen und doch sehr aktuellen Feld, zu denen wir herzlich in die Evangelische Akademie Tutzing einladen!
Gudrun Brockhaus, Sozialpsychologin, Psychoanalytikerin, München
Ulrike Haerendel, Studienleiterin, Evangelische Akademie Tutzing