STADTLUFT MACHT FREI, DORFIDYLL GEBORGEN – WIR BRAUCHEN BEIDES: WIR EXPRESSIONISTEN?
Wie Tannen im Gegenwind, so laufen die Menschen durch die Städte. Autos, Lichter, Lärm, Schaufenster, Warenüberfluss, Varieté, Paare und Passanten – alles tanzt, rast, pulsiert, giert unter den Laternen nach dem Rendezvous mit dem Zufall. Die Großstadt fasziniert – und: verstört. Vor 100 Jahren wie heute rasen wir aus der Enge ins Offene, stürzen uns in das Kesseltreiben der hitzigen Stadt. Bis wir, wie betäubt von den flirrenden Reizen, uns nach der Geborgenheit im Nest sehnen, in die Natur oder auf den Bauernhof flüchten.
Wir brauchen beides: die große weite Welt und den geschützten Winkel. Die Kurzweil der City und die Muse der Landschaft. Wo, wenn nicht im deutschen Expressionismus, gewinnen die Gegensätze, ja Gegenwelten, Form, Farbe, Figur, Profil und Atmosphäre? Wer, wenn nicht die Kunst, lockt uns aus dem Vertrauten ins Fremde, verführt uns oftmals Konservative zu Rebellen gegen das Immergleiche, nährt im Allzuähnlichen die Neugier nach dem Unähnlichen? Kunst, eine Vorschule der Politik?
Es geht, bei der Kunst nicht anders als in Religion, Politik, Musik oder Sport, inmitten des Bekannten um den Kontakt mit dem Unbekannten. Da knirschen unseren Routinen, knarzen die Konventionen, zerren uns die Widersprüche der Moderne in existentielle Fragen: Funktionieren wir nur oder tanzen wir mal aus der Reihe? Ersticken wir im Konsum oder ris-kieren wir unsere Passionen? Verlieren wir uns im Tempo des Fortschritts oder bewahren wir uns ein Minimum solidarischen Zusammenhaltens? Wie stoppen wir den Raubbau an Mensch und Natur?
In der einmaligen Ausstellung Die Sammlung Braglia (Brescia) konfrontiert uns der deutsche Expressionismus mit der Moderne. Bildern von Naturidyll und City, Kinderspiel und Industrie, ländlicher Heimat und städtischen Flaneuren steht die Literatur gegenüber mit der gleichen Angst und der gleichen Faszination für ein modernes Leben ins Offene und für so etwas wie Heimat, von der wir im Heimweh träumen.
Wir laden alle Interessierten sehr herzlich ein zum expressionistischen Spaziergang durch Kunst und Literatur, als sei es unser Leben.
Dr. Cathrin Klingsöhr-Leroy, Franz Marc Museum Kochel am See
Pfr. Dr. phil. Jochen Wagner, Evangelische Akademie Tutzing