SPRACHE IST ARCHIV UND VORBOTE DER GESCHICHTE
Vor 25 Jahren ging eine Epoche zu Ende: die 1922 gegründete Union der sozialistischen Sowjetrepubliken löste sich auf. Diese historische Zäsur hat in den Regionen des östlichen und zentralen Europas diverse Prozesse angeschoben: Länder wie Lettland, Estland, Litauen und Georgien wurden wieder unabhängig. Die Ukraine erlangte zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Eigenstaatlichkeit. Russland hingegen verlor seine Funktion als Leitkultur, den Status als imperiale Macht und erlebte eine „sudden state desintegration“ (Sheila Fitzpatrick).
Es folgte eine Zeit des zunächst chaotischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels, die komplexe, vielschichtige und gleichzeitige Veränderungen hervorbrachte: Aufstände, Revolutionen und Kriege, territoriale und politische Neuordnungsversuche, Arbeitsmigration, Braindrain und Fluchtbewegungen aus den Kriegsgebieten Transnistriens, Bergkarabachs, Abchasiens, Südossetiens sowie aus dem Donbas.
Es war aber auch eine Zeit des kulturellen Umdenkens, des „vsechestvo“ (Everythingism), des Zerfalls von Dogmatismus und der Auflösung von Grenzen. Gleichzeitig waren es Jahre des „Sich-Ausprobierens“ in der neu errungenen Freiheit sowie der Suche nach neuen sozialen Rollen und menschlichen Beziehungen unter veränderten Gegebenheiten.
Die Nachbeben des Zerfalls des sowjetischen Imperiums und das Ende des Kalten Krieges sind bis heute zu spüren. Neben dem Aufleben der alten Begriffe und Narrative, die auf die Gegenwartsfolie projiziert werden, ist ein wiedererwachtes Interesse an Nationen und Nationalismen, an Imperien und Kolonialismus zu beobachten. Postkoloniale Befindlichkeiten, die aus dem Opferdiskurs resultieren, postimperiale Syndrome und Phantomgrenzen, Identitätskrisen und -suche sind auch in der Gegenwart zu spüren.
Zum 25. Jahrestag des Zerfalls der Sowjetunion möchte die Evangelische Akademie Tutzing mit dem dreitägigen Kongress „Rückwärts in die Zukunft ?“ der Komplexität der vergangenen 25 Jahre begegnen, indem sie pluralistische Sichtweisen auf den Zerfall des Imperiums, seinen Einfluss auf die Gegenwart und die Zukunft sgestaltung anbietet – mit besonderem Blick auf Kultur, Literatur und Sprache. Dazu werden Schriftsteller-Innen aus Deutschland und den Ländern der Östlichen Partnerschaft als Seismographen und Sinnbildstifter ihrer Gesellschaft en eingeladen.
Im gemeinsamen Gespräch mit Teilnehmenden und Referierenden begeben wir uns auf die Suche nach Mythen und der Sprache des Zerfalls, spüren Traumata wie Euphorien nach, versuchen, die Auswirkungen auf die Gegenwart zu ergründen und fragen nach Zukunftsvisionen.
Herzliche Einladung in die Evangelische Akademie Tutzing!
Judith Stumptner & Kateryna Stetsevych